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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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endete in einer goldenen Klaue, deren Wiedergabe Wadsworth einige Mühe bereitethatte. Doch nun konnte er sich erfrischen, sich am Kamin ausstrecken, etwas essen und die Gesellschaft des Personals beobachten. Dieses war zahlreicher als erwartet. Ein Zolleinnehmer mochte wohl fünfzehn Dollar die Woche verdienen, genug, um sich ein Hausmädchen zu halten. Doch Tuttle hielt sich außerdem eine Köchin und einen Jungen für die Gartenarbeit. Da der Zolleinnehmer nicht den Eindruck machte, als ginge er mit seinem eigenen Geld verschwenderisch um, folgerte Wadsworth, dass es Mrs Tuttles Mitgift war, die eine solch luxuriöse Aufwartung erlaubte.
    Nachdem sich das Personal an Wadsworths Gebrechen gewöhnt hatte, verhielt es sich ihm gegenüber ganz unbefangen, als machte ihn seine Taubheit zu ihresgleichen. Diese Gleichheit gestand er ihnen gerne zu. Der Gärtnerbursche, ein Knirps, dessen Augen die Farbe gebrannter Umbra hatten, wollte ihn mit kleinen Kunststückchen unterhalten. Er musste wohl denken, dass es dem Portraitisten, da er der Worte beraubt war, an Unterhaltung fehlte. Dem war nicht so, doch er ließ sich diese Gefälligkeit gerne gefallen und lächelte, als der Junge Rad schlug, sich hinter der Köchin anschlich, während sie sich zum Backofen beugte, oder ein Ratespiel veranstaltete, bei dem er Eicheln in seinen Fäusten verbarg.
    Der Portraitist hatte seine Bouillon ausgelöffelt und wärmte sich am Feuer – ein Element, mit dem Mr Tuttle im übrigen Hause nicht freigebig war –, als ihm eine Idee kam. Er zog einen angekohlten Stecken vom Rande der Asche, berührte den Gärtnerburschen an der Schulter, um ihm zu bedeuten, er solle so bleiben, wie er war, und holte dann ein Skizzenbuch aus der Tasche. Die Köchin und das Hausmädchen wollten zusehen, was er da tat, aber er hielt sie mit einer Hand fern, als wollte er sagen, dass dieses spezielleKunststück, das er zum Dank für die Kunststücke des Jungen darbieten werde, unter Beobachtung nicht gelingen könne. Es war eine grobe Skizze – bei dem primitiven Werkzeug konnte sie nicht anders sein –, doch sie zeigte eine gewisse Ähnlichkeit. Er riss die Seite aus dem Buch und reichte sie dem Jungen. Das Kind schaute ihn erstaunt und dankbar an, legte die Skizze auf den Tisch, nahm Wadsworths Zeichenhand und küsste sie. Ich sollte immer Kinder malen, dachte der Portraitist, während er dem Jungen in die Augen sah. Fast hätte er nicht bemerkt, welch ein Tumult und Gelächter ausbrach, als die beiden anderen die Zeichnung betrachteten, und welche Stille eintrat, als der Zolleinnehmer, von dem plötzlichen Lärm angelockt, in die Küche kam.
    Der Portraitist sah zu, wie Tuttle dort stand, einen Fuß vorgeschoben wie auf seinem Portrait, und sein Mund sich auf eine Art öffnete und schloss, die keine Würde erkennen ließ. Er sah zu, wie die Köchin und das Hausmädchen eine schicklichere Haltung einnahmen. Er sah zu, wie der Junge auf einen Blick seines Herrn hin die Zeichnung nahm und sie ihm bescheiden und stolz aushändigte. Er sah zu, wie Tuttle das Blatt ruhig entgegennahm, es betrachtete, erst den Jungen, dann Wadsworth ansah, nickte, die Zeichnung bedächtig in vier Teile riss, sie ins Feuer legte, wartete, bis dieses aufloderte, noch etwas sagte, wobei er dem Portraitisten im Viertelprofil erschien, und die Küche verließ. Er sah zu, wie der Junge weinte.
    Das Portrait war vollendet: Das Klavier aus Rosenholz glänzte ebenso wie der Zolleinnehmer. In dem Fenster an Mr Tuttles Seite war das kleine weiße Zollhaus zu sehen – nicht, dass da ein wirkliches Fenster gewesen wäre, und selbst in dem Fall hätte man dort kein Zollhaus gesehen.Doch diese bescheidene Überhöhung der Realität leuchtete jedermann ein. Und vielleicht hatte der Zolleinnehmer gemeint, er verlange nur eine entsprechende Überhöhung der Realität, als er mehr Würde forderte. Er stand noch immer über Wadsworth gebeugt und deutete auf die Darstellung seines Gesichts, seiner Brust, seines Beins. Es war ganz unwichtig, dass der Portraitist nicht hören konnte, was er sagte. Er wusste genau, was gemeint war, und auch, wie wenig es ihm bedeutete. Ja, es war ein Vorteil, nichts zu hören, denn die Einzelheiten hätten zweifellos noch größeren Zorn in ihm aufsteigen lassen, als er ohnehin empfand.
    Er griff nach seinem Notizbuch. »Sir«, schrieb er, »wir haben fünf Tage für meine Arbeit ausgemacht. Ich muss morgen früh bei Tagesanbruch abreisen. Wir haben ausgemacht, dass

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