Unbefugtes Betreten
scharfsinnig genug, dies zu erkennen. Für solche Kunden war Wadsworths Wesensverwandtschaft mit Kindern der Beweis, dass es ihm ebenso an Verstand mangelte wie den Kindern. Für Wadsworth hingegen war diese Wesensverwandtschaft der Beweis, dass sie ebenso klar sahen wie er.
Als er sein Gewerbe aufnahm, hatte er seine Pinsel und Farben auf dem Rücken getragen und war über die Waldwege gezogen wie ein Hausierer. Er war auf sich allein gestellt und vertraute auf Empfehlungen und Werbung. Aber er war fleißig, und da er ein geselliges Wesen besaß, war er dankbar, dass sein Können ihm Zugang zum Leben anderer eröffnete. Er kam in ein Haus, und ob er nun im Stall untergebracht, beim Personal einquartiert oder, sehr selten und nur in den allerchristlichsten Häusern, wie ein Gast behandelt wurde, für diese wenigen Tage hatte er eine Aufgabe und fand Anerkennung. Das bedeutete nicht, dass er weniger herablassend behandelt wurde als andere Handwerker;aber zumindest hielt man ihn für einen normalen Menschen, das heißt einen Menschen, der Herablassung verdiente. Er war glücklich, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben.
Und dann erkannte er allmählich, ohne dass ihm etwas anderes zu dieser Erkenntnis verholfen hätte als seine eigenen Wahrnehmungen, dass er mehr hatte als eine bloße Aufgabe; er hatte selbst Macht. Seine Kunden würden das nicht zugeben; aber seine Augen sagten ihm, dass es so war. Langsam wurde ihm die Wahrheit seines Handwerks klar: Der Kunde war der Herr, bis auf die Momente, in denen er, James Wadsworth, der Herr des Kunden war. Zunächst einmal war er der Herr des Kunden, wenn sein Auge erkannte, was der Kunde ihn nicht wissen lassen wollte. Die Verachtung eines Ehemanns. Die Unzufriedenheit einer Ehefrau. Die Heuchelei eines Diakons. Das Leiden eines Kindes. Die Selbstgefälligkeit eines Mannes, der das Geld seiner Ehefrau ausgeben konnte. Die lüsternen Blicke, die ein verheirateter Mann auf das Hausmädchen warf. Große Dinge in kleinen Königreichen.
Und des Weiteren bemerkte er, dass er, wenn er im Stall aufgestanden war, sich die Pferdehaare von den Kleidern geklopft hatte und dann ins Haus hinüberging und zu einem Pinsel aus den Haaren eines anderen Tieres griff, mehr wurde als der, für den man ihn hielt. Die ihm Modell saßen und ihn bezahlten, wussten im Grunde nicht, was sie für ihr Geld bekommen würden. Sie wussten, was abgemacht war – die Größe der Leinwand, die Pose und das schmückende Beiwerk (die Schale mit Erdbeeren, der Vogel auf einer Schnur, das Klavier, die Aussicht aus einem Fenster) –, und aus dieser Abmachung leiteten sie ihre Herrschaft ab. Doch in eben diesem Moment ging die Herrschaft auf die andere Seite der Leinwand über. Bisher hattensie sich ein Leben lang in Spiegeln und Handspiegeln gesehen, in Löffelrücken und, verschwommen, in klaren, stillen Gewässern. Es hieß sogar, bei Liebenden könne einer sein Spiegelbild im Auge des anderen sehen; aber darin hatte der Portraitist keine Erfahrung. Doch all diese Bilder hingen von dem Menschen vor dem Glas, dem Löffel, dem Wasser, dem Auge ab. Wenn Wadsworth seinen Kunden ein Portrait ablieferte, sahen sich diese für gewöhnlich zum ersten Mal so, wie ein anderer sie sah. Manchmal nahm der Portraitist bei der Präsentation des Bildes wahr, wie den Mann, der ihm Modell gesessen hatte, ein jäher Schauder überlief, als ob dieser Mann dächte: So also bin ich in Wirklichkeit? Es war ein Moment von dunkler Bedeutsamkeit: Mit diesem Bild würde er in Erinnerung bleiben, wenn er tot war. Und dann gab es eine Bedeutsamkeit, die noch über diese hinausging. Wadsworth hielt sich nicht für vermessen, wenn sein Auge ihm sagte, dass der nächste Gedanke seines Modells oft war: Und so wird mich vielleicht auch der Allmächtige sehen? Wer nicht die Bescheidenheit besaß, sich solchen Zweifeln hinzugeben, benahm sich gern so, wie es jetzt der Zolleinnehmer tat: Er verlangte Änderungen und Verbesserungen, er erklärte dem Portraitisten, dass dessen Hand und Auge fehlerhaft seien. Ob diese Menschen die Eitelkeit besäßen, sich dereinst auch bei Gott zu beschweren? »Mehr Würde, mehr Würde.« Eine Anweisung, die ihm umso mehr widerstrebte, wenn er an Mr Tuttles Betragen in der Küche zwei Abende zuvor dachte.
Wadsworth hatte, mit seinem Tagwerk zufrieden, sein Abendessen eingenommen. Er hatte soeben das Klavier beendet. Das schmale Bein des Instruments, welches parallel zu Tuttles stämmigerem Bein verlief,
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