Unbefugtes Betreten
Sie mich heute Abend bezahlen. Bezahlen Sie mich, geben Sie mir drei Kerzen, und ich werde bis zum Morgen die gewünschten Verbesserungen ausführen.«
Es war selten, dass er einem Kunden so wenig Ehrerbietung erwies. Das würde seinem Ruf in diesem Landkreis schaden; aber das kümmerte ihn nicht mehr. Er hielt Mr Tuttle die Feder entgegen, doch dieser geruhte nicht, sie entgegenzunehmen. Stattdessen ging er hinaus. Der Portraitist wartete und betrachtete derweil seine Arbeit. Sie war gut gelungen: die Proportionen gefällig, die Farben harmonisch abgestimmt, und die Ähnlichkeit hielt sich in den Grenzen der Ehrlichkeit. Der Zolleinnehmer sollte zufrieden sein, die Nachwelt beeindruckt und sein Schöpfer – immer vorausgesetzt, er würde in den Himmel kommen – nicht allzu vorwurfsvoll.
Tuttle kehrte zurück und händigte ihm sechs Dollar – das halbe Honorar – und zwei Kerzen aus. Die Kosten für dieKerzen würden zweifellos von der zweiten Hälfte des Honorars abgezogen werden, wenn dieses zur Auszahlung käme. Falls es zur Auszahlung käme. Wadsworth betrachtete lange das Portrait, das für ihn schon eine ebensolche Realität angenommen hatte wie das Modell aus Fleisch und Blut, und dann traf er mehrere Entscheidungen.
Er nahm sein Abendessen wie gewöhnlich in der Küche ein. Am vorigen Abend waren seine Gefährten in die Schranken gewiesen worden. Er glaubte nicht, dass sie ihm die Schuld an dem Vorfall mit dem Gärtnerburschen gaben; im äußersten Fall dachten sie, sein Auftreten habe zu ihrem eigenen Fehlurteil geführt, und nun waren sie geläutert. Jedenfalls verstand Wadsworth es so, und er glaubte nicht, dass er klarer sähe, wenn er Gesprochenes hören oder von den Lippen lesen könnte; ja, vielleicht eher im Gegenteil. Nach seinem Notizbuch mit den Gedanken und Beobachtungen der Menschen zu urteilen, war es mit der Selbsterkenntnis der Welt, so sie ausgesprochen und niedergeschrieben wurde, nicht weit her.
Dieses Mal wählte er sein Kohlenstück mit größerer Sorgfalt und schabte mit seinem Taschenmesser daran herum, bis das Ende annähernd spitz war. Als ihm der Junge dann eher aus Angst denn aus dem Pflichtgefühl eines Modells reglos gegenüber saß, zeichnete der Portraitist ihn noch einmal. Als er fertig war, riss er das Blatt heraus, stellte, während der Junge ihn ansah, pantomimisch dar, er solle es unter seinem Hemd verbergen, und reichte es dann über den Tisch. Der Junge tat sofort, was er gesehen hatte, und lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. Danach zeichnete Wadsworth, vor jeder neuen Aufgabe sein Kohlenstück anspitzend, die Köchin und das Hausmädchen. Beide nahmen das Blatt und versteckten es, ohne es anzuschauen. Dann erhob er sich, gab ihnen die Hand, umarmteden Gärtnerburschen und machte sich an seine nächtliche Arbeit.
Mehr Würde, wiederholte er im Innern, während er die Kerzen anzündete und seinen Pinsel zur Hand nahm. Nun gut, ein würdevoller Mann ist ein Mann, dessen Erscheinung von lebenslangem Denken kündet; ein Mann, dessen Stirn das zum Ausdruck bringt. Ja, hier war eine Verbesserung vonnöten. Er maß den Abstand zwischen Augenbraue und Haaransatz und formte in der Mitte, direkt über dem rechten Augapfel, die Stirn weiter aus: eine Schwellung, ein kleiner Hügel, fast so, als beginne dort etwas zu wachsen. Dann tat er das Gleiche über dem linken Auge. Ja, das war besser. Doch Würde erschloss sich auch aus der Beschaffenheit des Kinns. Nicht, dass an Tuttles Kieferpartie geradezu etwas auszusetzen gewesen wäre. Aber vielleicht könnten die erkennbaren Anfänge eines Bartes nützlich sein – einige wenige Tupfer auf jeden Punkt des Kinns. Nichts, was unmittelbar ins Auge fallen, geschweige denn Anstoß erregen würde; nur eine Andeutung.
Und vielleicht war noch eine weitere Andeutung erforderlich. Er blickte an dem kräftigen und würdigen Bein des Zolleinnehmers hinab, von der bestrumpften Wade bis zum Schnallenschuh. Dann blickte er am parallelen Bein des Klaviers hinab, vom geschlossenen Deckel bis zu der goldenen Klaue, die ihn so aufgehalten hatte. Vielleicht hätte sich diese Mühe vermeiden lassen? Der Zolleinnehmer hatte nicht eigens bestimmt, dass das Klavier exakt wiedergegeben werden sollte. Wenn beim Fenster und beim Zollhaus ein wenig Überhöhung betrieben wurde, warum nicht auch beim Klavier? Umso mehr, als der Anblick einer Klaue neben einem Zollamtmann auf ein habsüchtiges und raubgieriges Wesen hindeuten könnte, und das würde
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