Unbefugtes Betreten
Worüber wir sprachen, weiß ich nicht mehr, aber anscheinend lief es ganz gut; vielleicht war der vergessene Vierte dabei eine Hilfe. An eins aber erinnere ich mich genau: Sie ließ den rechten Arm nach unten hängen, und als sie merkte, dass ich ungefähr in ihre Richtung sah, machte sie unauffällig das Raucherzeichen – du weißt schon, Zeige- und Mittelfinger ausgestreckt und leicht gespreizt, die anderen Finger und der Daumen verborgen. Ich dachte: Eine Ärztin, die raucht, das ist ein gutes Zeichen. Während die Unterhaltung weiter dahinplätscherte, holte ich meine Schachtel Marlboro Lights hervor und zog ohne hinzusehen – auch ich agierte auf Taillenhöhe – eine einzelne Zigarette heraus, steckte die Packung wieder ein, fasste die Zigarette am Filter an, reichte sie hinter dem Rücken der Mutter herum und spürte, wie mir die Zigarette aus den Fingern genommen wurde. Als ich auf der anderen Seite ein leichtes Zögern bemerkte, fasste ich noch einmal in die Tasche, holte ein Streichholzbriefchen heraus, hielt es an der Reibfläche fest, spürte, wie es mir aus den Fingern genommen wurde, sah zu, wie sie die Zigarette anzündete, Rauch ausblies, den Deckel des Streichholzbriefchens schloss und es hinter dem Rücken der Mutter zurückreichte. Ich nahm es vorsichtig am selben Ende entgegen, an dem ich es hingereicht hatte.
Ich sollte hinzufügen, dass ihrer Mutter völlig klar war, was wir da trieben. Aber sie sagte nichts und fing auch nicht an zu seufzen, affektierte Blicke um sich zu werfen oder mich zu rügen, weil ich mich als Drogendealer betätigte. Das machte sie mir auf der Stelle sympathisch, dennich nahm an, dass sie diese Komplizenschaft zwischen mir und ihrer Tochter billigte. Vermutlich hätte sie ihre Missbilligung aus strategischen Gründen bewusst zurückhalten können. Aber darüber dachte ich nicht weiter nach, besser gesagt, ich wollte nicht weiter darüber nachdenken, weil ich lieber von ihrer Billigung ausging. Doch das wollte ich dir gar nicht erzählen. Es geht mir nicht um ihre Mama. Es geht mir um diese drei Momente, in denen ein Gegenstand von den einen Fingerspitzen zu den anderen übergegangen war.
Näher kam ich ihr an diesem Abend nicht und auch nicht in den folgenden Wochen.
Hast du je dieses Spiel gespielt, wo man mit geschlossenen oder verbundenen Augen in einem Kreis sitzt und einen Gegenstand erraten muss, den man nur befühlen darf? Und dann reicht man ihn an den Nächsten weiter, und der muss auch wieder raten. Oder man behält seine Vermutung für sich, bis sich jeder entschieden hat, und alle geben ihre Antwort gleichzeitig bekannt.
Ben behauptet, einmal wäre bei diesem Spiel ein Mozzarella-Käse herumgereicht worden, und drei Leute hätten ihn für ein Brustimplantat gehalten. Na ja, kannst du sagen, das waren eben Medizinstudenten; aber irgendwie fühlt man sich mit geschlossenen Augen schutzloser, oder man stellt sich alle möglichen gruseligen Dinge vor – vor allem, wenn der herumgereichte Gegenstand weich und wabbelig ist. Als ich das Spiel spielte, war der geheimnisvolle Gegenstand, der am meisten Furore machte und bei dem garantiert jemand ausflippte, eine geschälte Litschi.
Vor einigen Jahren – zehn, fünfzehn Jahren? – sah ich eine Aufführung von König Lear in einer brutalistischen Inszenierung vor einer Kulisse von nacktem Mauerwerk. Ichweiß nicht mehr, wer der Regisseur war und wer die Titelrolle spielte; aber an die Blendung Gloucesters erinnere ich mich noch gut. Im Allgemeinen wird der Graf dabei gefesselt und auf einem Stuhl nach hinten gekippt. Cornwall sagt zu seinen Dienern: »Haltet fest den Stuhl« und dann zu Gloucester: »Auf deine Augen setz’ ich meinen Fuß.« Ein Auge wird ausgestochen, und Regan bemerkt kühl: »Eins wird das andre höhnen; jenes auch.« Kurz darauf kommt dann das berühmte »Heraus, du schnöder Gallert«, Gloucester wird aufgerichtet, und von seinem Gesicht tropft Theaterblut.
In der Inszenierung, die ich sah, wurde die Blendung hinter der Bühne vollzogen. Ich meine mich zu erinnern, dass Gloucesters Beine aus den Backsteinkulissen hervorzappelten, aber das kann ich mir im Nachhinein eingebildet haben. An sein Geschrei erinnere ich mich jedoch genau, und dass ich es umso entsetzlicher fand, als es von hinter der Bühne kam: Was man nicht sehen kann, macht einem vielleicht mehr Angst als das, was man sieht. Und als dann das erste Auge ausgestochen war, wurde es in hohem Bogen auf die Bühne geworfen. In
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