Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
Vom Netzwerk:
meiner Erinnerung – vor meinem geistigen Auge – sehe ich es mit leichtem Glitzern über die Bühnenschräge rollen. Weitere Schreie, und ein zweites Auge wurde aus den Kulissen geschleudert.
    Es waren – du hast es erraten – geschälte Litschis. Und dann geschah Folgendes: Cornwall stampfte, schlaksig und brutal, auf die Bühne zurück, lief den kullernden Litschis nach und setzte seinen Fuß ein zweites Mal auf Gloucesters Augen.
    Ein anderes Spiel aus jener fernen Zeit, als ich ein Grundschüler mit Schluckauf war. In der großen Pause veranstaltetenwir auf dem Asphalt des Schulhofs Wettrennen mit Modellautos. Die Autos waren etwa zehn Zentimeter lang, bestanden aus Gusseisen und hatten echte Gummireifen, die man von den Rädern abziehen konnte, wenn man einen Boxenstopp simulieren wollte. Sie waren in den leuchtenden Farben der Rennställe jener Zeit angemalt: ein knallroter Maserati, ein grüner Vanwall, ein blauer ... irgendein Franzose vielleicht.
    Das Spiel war einfach: Das Auto, das am weitesten kam, hatte gewonnen. Man drückte den Daumen mitten auf die lange Motorhaube, zog die Finger zu einer lockeren Faust zusammen und dann, auf ein Signal hin, verlagerte man den Druck blitzartig von abwärts nach vorwärts, und das Auto schnellte davon. Um den optimalen Anschub zu bewirken, brauchte man eine bestimmte Technik; dabei bestand die Gefahr, dass der Knöchel des dicht über dem Boden gehaltenen Mittelfingers auf den Asphalt schrappte, sodass die Haut aufschürfte und das Rennen verloren war. Die Wunde verschorfte, also musste man die Hand entsprechend verrenken, und dann geriet der Knöchel des Ringfingers in die Gefahrenzone. Aber so konnte man nie dieselbe Geschwindigkeit erzielen, also kehrte man zu der üblichen Mittelfingertechnik zurück und riss dabei oft den frischen Schorf wieder ab.
    Eltern warnen ihre Kinder doch nie vor den richtigen Gefahren, stimmt’s? Vielleicht können sie auch nur vor den unmittelbaren Gefahren am jeweiligen Ort warnen. Sie verbinden dir den Knöchel des rechten Mittelfingers und warnen dich, dass er sich entzünden könnte. Sie erklären dir, was der Zahnarzt macht, und dass der Schmerz hinterher nachlässt. Sie bringen dir die Verkehrsregeln bei – zumindest die, die für jüngere Fußgänger gelten. Einmal wolltenmein Bruder und ich eine Straße überqueren, da befahl unser Vater in strengem Ton: »Am Bordstein anhalten!« Wir waren in dem Alter, in dem sich ein primitives Sprachverständnis mit einer Art Taumel mischt, was die Möglichkeiten der Sprache angeht. Wir sahen uns an, riefen »Am Bordstein anhalten!«, hockten uns hin und krallten uns mit den Händen an der Bordsteinkante fest. Unser Vater fand das total albern; wahrscheinlich rechnete er sich schon aus, wie lange dieser Scherz andauern würde.
    Die Natur hat uns gewarnt, unsere Eltern haben uns gewarnt. Wir haben gelernt, auf den Schorf am Knöchel und auf den Verkehr zu achten. Wir haben gelernt, uns vor einem losen Treppenläufer vorzusehen, weil Großmutter einmal fast gestürzt wäre, als eine der Messingstangen zum alljährlichen Putzen abgenommen und nicht richtig wieder eingesetzt worden war. Wir haben gelernt, uns vor dünnem Eis und Frostbeulen zu hüten und vor bösen Jungs, die Kieselsteine und manchmal sogar Rasierklingen in Schneebälle stecken – auch wenn keine dieser Warnungen je durch ein wirkliches Ereignis gerechtfertigt wurde. Wir haben gelernt, was es mit Nesseln und Disteln auf sich hat und dass Gras, das doch so harmlos erscheint, plötzlich die Haut aufreißen kann wie Sandpapier. Man hat uns vor Messern und Scheren gewarnt und vor den Gefahren loser Schnürsenkel. Man hat uns vor fremden Männern gewarnt, die uns in Autos oder Lastwagen locken wollen; allerdings brauchten wir Jahre, um zu begreifen, dass »fremd« nicht »abnorm« oder »aus einem anderen Land kommend« bedeutete – oder was immer wir unter Fremdartigkeit verstanden hatten –, sondern einfach nur »uns unbekannt«. Man hat uns vor schlimmen Jungs und, später, vor schlimmen Mädchen gewarnt. Ein verlegener Biolehrerwarnte uns vor Geschlechtskrankheiten mit der missverständlichen Information, sie kämen von »häufig wechselndem Verkehr«. Man hat uns vor Völlerei und Müßiggang gewarnt und vor der Gefahr, unserer Schule Schande zu machen, vor Habsucht und Gier und vor der Gefahr, unserer Familie Schande zu machen, vor Neid und Zorn und vor der Gefahr, unserem Land Schande zu machen.
    Vor einem

Weitere Kostenlose Bücher