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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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gebrochenen Herzen hat man uns nie gewarnt.
    Ich habe vorhin das Wort »Komplizenschaft« gebraucht. Das Wort gefällt mir. Eine stillschweigende Übereinkunft zwischen zwei Menschen, eine Art Vorgefühl, wenn man so will. Das erste Anzeichen, dass man zueinander passen könnte, noch vor dem ängstlich-mühsamen Erkunden, ob man »gemeinsame Interessen« hat, ob die Chemie stimmt, ob man sexuell zueinanderpasst, ob beide Kinder wollen oder welche bewussten Begründungen wir sonst für unsere unbewussten Entscheidungen finden. Später, im Rückblick, fetischisieren und feiern wir die erste Verabredung, den ersten Kuss, die erste gemeinsame Urlaubsreise; dabei geschah das, was wirklich zählt, vor dieser öffentlichen Geschichte: jener Moment, der eher einem Impuls als einer Überlegung folgt, und der da sagt: Ja, die könnte es sein, und: Ja, der könnte es sein.
    Das habe ich Ben ein paar Tage nach seiner Party zu erklären versucht. Ben ist ein Mensch, der Kreuzworträtsel löst und Wörterbücher liebt, ein Pedant. Er sagte, »Komplizenschaft« bedeute die gemeinsame Beteiligung an einem Verbrechen, einer Sünde oder einer schändlichen Tat. Es bedeute, dass man etwas Schlechtes im Schilde führt.
    Ichverwende den Begriff lieber weiterhin so, wie ich ihn verstehe. Für mich bedeutet er, dass man etwas Gutes im Schilde führt. Sie und ich waren erwachsene unabhängige und zu eigenen Entscheidungen fähige Menschen. Und in dem Moment führt doch niemand etwas Schlechtes im Schilde, oder?
    Wir gingen zusammen ins Kino. Ich hatte noch keine klare Vorstellung von ihrer Wesensart und ihren Gewohnheiten. Ob sie pünktlich oder unpünktlich war, gelassen oder reizbar, tolerant oder streng, fröhlich oder depressiv, normal oder verrückt. Das hört sich vielleicht grobschlächtig an; außerdem begreift man einen anderen Menschen wohl kaum, indem man Kästchen mit feststehenden Antworten ankreuzt. Es ist durchaus möglich, dass jemand fröhlich und depressiv, gelassen und reizbar ist. Ich will damit sagen, dass ich noch kein klares Bild von den Standardeinstellungen ihres Charakters hatte.
    Es war ein kalter Dezembernachmittag; wir waren in getrennten Autos zum Kino gefahren, weil sie Bereitschaftsdienst hatte und ins Krankenhaus zurückgepiept werden konnte. Ich saß da und schaute mir den Film an, achtete aber zugleich auf ihre Reaktionen: Lächeln, Schweigen, Tränen, ein Zurückschrecken vor Gewalt – alles war so etwas wie ein stummer Piepton zu meiner Information. Das Kino war unzulänglich geheizt, und als wir so dasaßen, Ellbogen an Ellbogen auf der Armlehne, dachte ich unwillkürlich auswärts von mir zu ihr. Hemdärmel, Pullover, Jackett, Regenmantel, Cabanjacke, Pulli – und was dann? Nichts weiter, gleich das Fleisch? Also sechs Schichten zwischen uns, vielleicht auch sieben, falls sie etwas mit Ärmeln unter dem Pulli trug.
    Der Film lief weiter; ihr Handy vibrierte nicht; ich mochteihr Lachen. Als wir herauskamen, war es schon dunkel. Auf halbem Weg zu unseren Autos blieb sie stehen und hob die linke Hand hoch, die Handfläche mir zugekehrt.
    »Schau mal«, sagte sie.
    Ich wusste nicht, wonach ich schauen sollte: nach Anzeichen von Alkoholismus, nach ihrer Lebenslinie? Ich trat näher heran und erkannte mit Hilfe ab und zu vorüberhuschender Autoscheinwerfer, dass sich die Spitzen ihres Zeige-, Mittel- und Ringfingers blassgelb verfärbt hatten.
    »Zwanzig Meter ohne Handschuhe«, sagte sie. »Und schon ist es passiert.« Sie nannte mir den Namen des Syndroms. Es hat etwas mit schlechter Durchblutung zu tun – bei Kälte konzentriert sich das Blut in wichtigeren Körperbereichen und zieht sich aus den Gliedmaßen zurück.
    Sie fand ihre Handschuhe: dunkelbraune Handschuhe, das weiß ich noch. Sie zog sie etwas unkonzentriert an und verschränkte dann die Finger, um die Wolle jeweils bis zum Handteller herunterzudrücken. Wir gingen weiter, redeten über den Film, blieben stehen, lächelten, blieben stehen, verabschiedeten uns; mein Wagen war zehn Meter weiter geparkt als ihrer. Als ich ihn eben aufschließen wollte, warf ich einen Blick zurück. Sie stand immer noch auf dem Bürgersteig und hatte den Kopf gesenkt. Ich wartete einen Moment, meinte dann, da könne etwas nicht stimmen, und ging zurück.
    »Die Autoschlüssel«, sagte sie, ohne mich anzusehen. Es war ziemlich dunkel, und sie kramte in ihrer Tasche, wo sie die Schlüssel eher tastend suchte. Dann sagte sie mit jäher Heftigkeit: »Nun mach

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