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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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uns gern eine anstecken würden, wenn es nicht verboten wäre. Nach dem Hauptgang und vor dem Nachtisch, da waren wir uns einig. Wir bezeichneten uns beide als Gelegenheitsraucher, und jeder schenkte dem anderen so halbwegs Glauben. Dann sprachen wir ein bisschen, aber ganz vorsichtig, über unsere Kindheit. Ich fragte, wie alt sie gewesen sei, als sie zum ersten Mal merkte, dass ihre Fingerspitzen bei Kälte gelb wurden, und ob sie viele Handschuhe habe, was sie aus irgendeinem Grund zum Lachen brachte. Vielleicht hatte ich ein Geheimnis ihrer Garderobe aufgedeckt. Fast hätte ich sie gebeten, mir ihre Lieblingshandschuhe zu beschreiben, aber dann dachte ich, das könnte sie womöglich missverstehen.
    Während wir weiteraßen, meinte ich dann, es werde schon alles gut laufen – aber mit »alles« meinte ich nur diesen Abend; weiter konnte ich nicht denken. Und sie fand das wahrscheinlich auch, denn als der Kellner fragte, ob wir noch einen Nachtisch wollten, schaute sie nicht entschuldigend auf die Uhr, sondern sagte, sie könne gerade noch etwas bewältigen, sofern es nicht klebrig und reichhaltig sei, und entschied sich deshalb für die Litschis. Und ich beschloss, ihr nichts von dem Spiel aus längst vergangenen Zeiten zu erzählen und auch nichts von dieser Aufführung von König Lear . Und dann wagte ich mich für einen Moment an eine Zukunft heran und dachte, wenn wirspäter einmal wiederkämen, dann könnte ich es ihr erzählen. Außerdem hoffte ich, dass sie dieses Spiel nie mit Ben gespielt und einen Mozzarella in die Hand gedrückt bekommen hatte.
    Gerade als ich das dachte, quoll die Erkennungsmelodie von Doktor Schiwago aus den Lautsprechern. Wir sahen uns an und lachten, und sie machte eine Handbewegung, als wollte sie ihren Stuhl zurückschieben und aufstehen. Vielleicht sah sie meinen entsetzten Blick, denn sie lachte noch einmal und warf dann, zum Schein auf meinen Vorschlag eingehend, ihre Serviette auf den Tisch. Bei dieser Bewegung geriet ihre Hand über die Mitte des Tischtuchs. Sie stand aber nicht auf und schob auch den Stuhl nicht zurück, sie lächelte einfach weiter und ließ die Hand mit erhobenen Knöcheln auf der Serviette liegen.
    Und dann berührte ich sie.

Harmonie
    ____
    Man hatte gut gespeist in der Landstraße 261 und begab sich nun erwartungsvoll ins Musikzimmer. M---s engste Freunde hatten bisweilen das große Glück gehabt, ein Vorspiel von Gluck, Haydn oder dem Wunderkind Mozart zu erleben; aber sie waren es ebenso zufrieden, wenn sich der Gastgeber an sein Violoncello setzte und einen aus ihrem Kreise heranwinkte, auf dass er ihn begleite. Diesmal jedoch war der Clavierdeckel geschlossen und das Violoncello nirgends zu sehen. Stattdessen erblickten sie einen länglichen Kasten aus Rosenholz, dessen Beine zu beiden Seiten die Form einer Lyra bildeten; an einer Seite befand sich ein Rad und unten ein Pedal. M--- schlug den gewölbten Deckel des Apparats zurück, und es kamen drei Dutzend gläserne Halbkugeln zum Vorschein, in der Mitte durch eine Spindel verbunden und zur Hälfte in eine Rinne mit Wasser versenkt. Er nahm davor Platz und zog rechts und links eine flache Schublade auf. Die eine enthielt eine niedrige Schale mit Wasser, die andere einen Teller voll feiner Kreide.
    »Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte«, sagte M--- mit einem Blick auf seine Gäste. »Diejenigen unter Ihnen, die Miss Davies’ Instrument noch nicht gehört haben, könnten zum Zwecke des Experiments die Augen schließen.«Er war ein groß gewachsener, gut gebauter Mann in einem blauen Gehrock mit flachen Messingknöpfen; seine markanten Züge mit dem ausgeprägten Kinn waren die eines wackeren Schwaben, und hätten Haltung und Stimme nicht erkennbar von Adel gezeugt, so hätte man ihn für einen wohlhabenden Landwirt halten können. Doch sein höflicher und zugleich eindringlicher Appell bewog manche, die ihn bereits hatten spielen hören, gleichfalls die Augen zu schließen.
    M--- benetzte die Fingerspitzen mit Wasser, schüttelte sie trocken und tunkte sie in die Kreide. Während er mit dem rechten Fuß das Pedal betätigte, drehte sich die Spindel um die glänzenden Messingzapfen. Er legte die Finger auf die rotierenden Gläser und rief damit einen hohen, tremolierenden Ton hervor. Es war allgemein bekannt, dass das Instrument fünfzig Golddukaten gekostet hatte, und die Skeptiker im Publikum fragten sich zunächst, warum ihr Gastgeber so viel Geld ausgegeben hatte, um das Jammern einer

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