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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Auftritten angaffte, hatte ihre Blindheit einen ganz besonderen Reiz. Doch die Eltern wollten das Mädchen nicht als Jahrmarktsattraktion für die bessere Gesellschaft behandelt sehen. Sie hatten von Anfang an immer wieder Heilung für ihre Tochter gesucht. Professor Stoerk, Hofarzt und Dekan der Medizinischen Fakultät, kam regelmäßig zu ihr, und auch der berühmte Starstecher Professor Barth wurde konsultiert. Ein Heilverfahren nach dem anderen wurde erprobt, doch da keines den Zustand des Mädchens bessern konnte, entwickelte es eine Neigung zu Reizbarkeit und Melancholie und wurde von Anfällen heimgesucht, bei denen die Augäpfel aus den Höhlen hervortraten. Es war wohl abzusehen, dass das Zusammenspiel von Musik und Medizin dann die zweite Begegnung zwischen M--- und Maria Theresia herbeiführen würde.
    M--- wurde 173- in Iznang am Bodensee geboren. Der Sohn eines bischöflichen Försters studierte Theologie in Dillingen und Ingolstadt und machte dann seinen Doktor in Philosophie. Er ging nach W--- und wurde Doktor der Jurisprudenz, bevor er sich der Medizin zuwandte. Diese Geistesumschwünge zeugten jedoch nicht von Wankelmut, geschweige denn von einem dilettantischen Gemüt. Vielmehr strebte M--- wie Doktor Faustus danach, sämtliche Arten menschlichen Wissens zu beherrschen; und wie so viele vor ihm verfolgte er letztlich das Ziel – oder den Traum –, einen Generalschlüssel zu einem vollkommenen Verständnis dessen zu finden, was Himmel und Erde, Körper und Geist und alles mit allem zusammenhält.
    Im Sommer des Jahres 177- weilte ein vornehmer Ausländer mit seiner Frau zu Besuch in der Kaiserstadt. Die Dame erkrankte, und ihr Gatte beauftragte den Astronomen (und Angehörigen der Gesellschaft Jesu) Maximilian Hell – ganz so, als wäre das ein gewöhnliches Heilverfahren –, einen Magneten vorzubereiten, der auf den befallenen Körperteil angesetzt werden sollte. Hell war mit M--- befreundet und hielt ihn über seinen Auftrag auf dem Laufenden; und als es hieß, die Dame sei von ihrem Leiden geheilt, eilte M--- an ihr Bett, um sich über das Verfahren kundig zu machen. Kurz darauf begann er mit eigenen Experimenten. Er ließ zahlreiche Magneten unterschiedlicher Größe anfertigen: Die einen sollten auf den Magen, andere auf das Herz, wieder andere auf die Kehle gelegt werden. Zu seinem eigenen Erstaunen und zur Dankbarkeit seiner Patienten entdeckte M---, dass sich bisweilen Heilungen erzielen ließen, die über ärztliches Können hinausgingen; besondere Aufmerksamkeit fanden die Fälle des Fräuleins Österlin und des Mathematikers Professor Bauer.
    Wäre M--- ein Jahrmarktsquacksalber gewesen und seine Patienten leichtgläubige Bauern, die sich in einer stinkenden Marktbude drängten, um sich ebenso bereitwillig von ihren Ersparnissen wie von ihren Schmerzen befreien zu lassen, hätte die Gesellschaft dem keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Doch M--- war ein Mann der Wissenschaft, von weitgespannter Wissbegier statt offenkundiger Anmaßung, und stellte keine Behauptungen auf, für die er nicht geradestehen konnte.
    »Es wirkt«, hatte Professor Bauer bemerkt, als sein Atem leichterging und er die Arme über die Horizontale hinaus anheben konnte. »Aber wie wirkt es?«
    »Ich weiß es noch nicht«, hatte M--- erwidert. »Wenn man in früheren Zeiten Magneten einsetzte, wurde das damit begründet, dass sie die Krankheit ebenso an sich zögen wie Eisenspäne. Doch diese Argumentation lässt sich heute nicht mehr aufrechterhalten. Wir leben nicht mehr im Zeitalter des Paracelsus. Unser Denken wird vom Verstand geleitet, und hier muss der Verstand zum Einsatz kommen, zumal wir es mit Erscheinungen zu tun haben, die unter der Oberfläche verborgen liegen.«
    »Sofern Sie nicht vorhaben, mich zu sezieren, um es herauszufinden«, antwortete Professor Bauer.
    In jenen ersten Monaten war die Magnetkur ebenso eine Angelegenheit der wissenschaftlichen Erforschung wie der medizinischen Praxis. M--- experimentierte mit Anordnung und Anzahl der Magneten, die bei einem Patienten zum Einsatz kamen. Er selbst trug zur Verstärkung seiner Influenz oft einen Magneten in einem ledernen Beutel um den Hals und benutzte einen Stock oder Stab, um die gewünschte Ausrichtung von Nerven, Blut und Organen aufzuzeigen. Er magnetisierte Wasserbecken und ließ die Patienten Hände, Füße und bisweilen den ganzen Körper in die Flüssigkeit eintauchen. Er magnetisierte die Tassen und Gläser, aus denen sie tranken. Er

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