Unbefugtes Betreten
magnetisierte ihre Kleider, ihre Bettlaken, ihre Spiegel. Er magnetisierte Musikinstrumente, auf dass sich beim Spielen eine doppelte Harmonie ergebe. Er magnetisierte Katzen, Hunde und Bäume. Er konstruierte einen baquet , einen Zuber aus Eichenholz, in dem sich zwei Reihen von Flaschen mit magnetisiertem Wasser befanden. Aus dem Deckel ragende Stahlstäbe wurden auf die befallenen Körperteile gelegt. Bisweilen sollten sich die Patienten an den Händen fassen undeinen Kreis um den baquet bilden, da M--- annahm, es erhöhe die Kraft des Magnetstroms, wenn er durch mehrere Körper zugleich hindurchfloss.
»Natürlich erinnere ich mich an das gnädige Fräulein aus meiner Zeit als Student der Medizin, als ich manchmal Professor Stoerk begleiten durfte.« Jetzt gehörte M--- selbst der Fakultät an, und das Mädchen war fast eine Frau: mollig, mit einem Mund, dessen Winkel sich nach unten bogen, und einer Nase, die sich nach oben bog. »Und obgleich ich noch weiß, wie Ihr Zustand damals beschrieben wurde, würde ich dennoch gern Fragen stellen, die Sie, wie ich fürchte, schon oft beantwortet haben.«
»Selbstverständlich.«
»Es ist ausgeschlossen, dass das Fräulein von Geburt an blind war?«
M--- merkte, dass die Mutter sogleich antworten wollte, sich aber zurückhielt.
»Ausgeschlossen«, sagte ihr Gatte. »Sie sah so klar wie ihre Brüder und Schwestern.«
»Und sie war nicht krank, bevor sie erblindete?«
»Nein, sie war immer gesund.«
»Und erlitt sie irgendeinen Schock, als das Unglück sie traf, oder kurz zuvor?«
»Nein. Das heißt keinen, den wir oder andere bemerkt hätten.«
»Und danach?«
Diesmal antwortete die Mutter. »Wir haben sie stets so gut vor jedem Schock bewahrt, wie wir nur konnten. Ich würde mir die eigenen Augen ausreißen, wenn ich glaubte, das würde Maria Theresia das Augenlicht wiedergeben.«
M---sah das Mädchen an, das keine Reaktion zeigte. Es war anzunehmen, dass es diese unwahrscheinliche Lösung schon oft gehört hatte.
»Ihr Zustand war also konstant?«
»Ihre Blindheit war konstant« – das war wieder der Vater – »aber zuweilen zucken ihre Augen krampfhaft und unaufhörlich. Und wie Sie sehen, treten die Augäpfel hervor, als wollten sie den Höhlen entfliehen.«
»Sind Sie sich dieser Zuckungen bewusst, Fräulein?«
»Natürlich. Es ist ein Gefühl, als ströme langsam Wasser in mich ein und wolle meinen Kopf ausfüllen, als werde ich in Ohnmacht fallen.«
»Und hinterher hat sie Beschwerden an Leber und Milz. Sie arbeiten nicht richtig.«
M--- nickte. Er müsste bei einem solchen Anfall zugegen sein, um Vermutungen über dessen Ursachen anzustellen und den Verlauf zu beobachten. Er überlegte, wie sich das am besten einrichten ließe.
»Darf ich dem Herrn Doktor eine Frage stellen?« Maria Theresia hatte den Kopf leicht zu ihren Eltern hin erhoben.
»Natürlich, mein Kind.«
»Bringt Ihr Verfahren Schmerzen mit sich?«
»Keine, die ich selbst zufüge. Wenngleich es oft so ist, dass der Patient an einen bestimmten ... Punkt geführt werden muss, bevor sich die Harmonie wiederherstellen lässt.«
»Ich meine, lösen Ihre Magneten einen elektrischen Schock aus?«
»Nein, das kann ich Ihnen versprechen.«
»Aber wenn Sie keine Schmerzen verursachen, wie können Sie dann heilen? Jeder weiß, dass man keinen Zahn ziehen kann ohne Schmerzen, keine Gliedmaßen einrenken kann ohne Schmerzen, Wahnsinn nicht heilen kann ohneSchmerzen. Ein Arzt verursacht Schmerzen, das weiß alle Welt. Und ich weiß es auch.«
Seit sie ein kleines Kind war, hatten die besten Ärzte die probatesten Methoden angewandt. Sie wurde mit Zugpflastern und Kauterisation und Blutegeln behandelt. Zwei Monate lang lag ihr Kopf in Gips, um eine Eiterbildung auszulösen und das Gift aus ihren Augen zu ziehen. Man hatte ihr zahllose abführende und harntreibende Mittel verabreicht. Zuletzt hatte man elektrischen Strom eingesetzt und ihren Augen übers Jahr an die dreitausend Elektroschocks verabreicht, manchmal bis zu hundert bei einer einzigen Behandlung.
»Sind Sie ganz sicher, dass der Magnetismus mir keine Schmerzen bereiten wird?«
»Ganz sicher.«
»Wie kann er mich dann heilen?«
M--- erkannte mit Freuden den Verstand hinter den blinden Augen. Ein passiver Patient, der nur darauf wartete, dass ein allmächtiger Arzt an ihm tätig wurde, war langweilig und uninteressant; er hatte lieber Patienten wie diese junge Frau, die nach außen wohlerzogen, aber doch energisch
Weitere Kostenlose Bücher