Unbefugtes Betreten
ihr die Daumen direkt unter den Augen auf die Wangen und machte kreisende Bewegungen um die krankhaft veränderten Augäpfel. Dann berührte er die Brauen nacheinander sanft mit seinem Stock oder Stab. Dabei ermunterte er Maria Theresia leise, ihm alle Veränderungen oder Bewegungen in ihrem Innern zu vermelden. Danach legte er je einen Magneten an ihre Schläfen. Er verspürte sofort eine jähe Hitze auf den Wangen, was ihm das Mädchen bestätigte; er bemerkte auch eine Rötung der Haut und ein Zittern der Glieder. Maria Theresia schilderte ihm dann eine immer stärker werdende Kraft im Nacken, die ihren Kopf aufwärts und nach hinten zog. Als diese Bewegungen auftraten, bemerkte M---, dass die Zuckungen in den Augen ausgeprägter und zuweilen konvulsivisch waren. Nachdem diese kurze Krisis vorüber war, verschwand die Rötung der Wangen, der Kopf nahm wieder die normale Haltung an, das Zittern hörte auf, und M--- hatte den Eindruck, die Augen hätten eine bessere Ausrichtung gefunden und seien auch weniger geschwollen.
Er wiederholte die Prozedur jeden Tag zur gleichen Zeit, und jeden Tag führte die kurze Krisis zu einer merklichen Besserung, bis am Ende des vierten Tages die Augen in die richtige Ausrichtung zurückgekehrt waren und kein Hervorquellen mehr zu beobachten war. Das linke Auge schien kleinerzu sein als das rechte, doch im weiteren Verlauf der Behandlung glich sich die Größe der Augen allmählich an. Die Eltern des Mädchens waren verblüfft: M---s Versprechen hatte sich erfüllt, und ihre Tochter wies keine Entstellungen mehr auf, die bei den Zuschauern ihrer Auftritte Schrecken verbreiten könnten. Doch M--- widmete sich bereits dem inneren Zustand der Patientin, von dem er meinte, er bewege sich auf die nötige Krisis zu. Während er seine täglichen Anwendungen fortsetzte, berichtete ihm die Patientin von dem Auftreten stechender Schmerzen am Hinterkopf, die den gesamten Kopf durchdrängen. Der Schmerz ziehe sich dann am Sehnerv entlang und rufe fortwährende Stiche hervor, während er über die Retina wandere und dabei stetig zunehme. Diese Symptome gingen mit einem nervösen Zucken des Kopfes einher.
Maria Theresia hatte schon seit Jahren jeden Geruchssinn verloren, und ihre Nase sonderte keinen Schleim ab. Nun trat plötzlich ein deutliches Anschwellen der Nasengänge auf sowie ein kräftiger Ausfluss einer grünen zähflüssigen Substanz. Kurz darauf gab es zur großen Verlegenheit der Patientin weitere Ausflüsse, diesmal in Form einer ausgiebigen Diarrhö. Die Schmerzen in den Augen hielten an, und sie berichtete von Schwindelgefühlen. M--- erkannte, dass sie ein Stadium äußerster Verletzlichkeit erreicht hatte. Eine Krisis war nie neutral: Sie konnte gutartig oder bösartig sein – nicht ihrem Wesen, wohl aber ihren Folgen nach, die in eine Progression oder aber eine Regression münden konnten. Daher machte er den Eltern des Mädchens den Vorschlag, es für kurze Zeit in der Landstraße 261 einzuquartieren. M---s Frau würde sich um Maria Theresia kümmern, doch könne sie gegebenenfalls auch ein eigenes Dienstmädchen mitbringen. Es seien bereits zwei junge Patientinnen im Hause untergebracht, sodasssich die Frage der Schicklichkeit nicht stelle. Dieser neue Plan fand rasch Zustimmung.
Maria Theresia weilte zwei Tage im Hause, als M--- die Patientin noch im Beisein des Vaters, nachdem er wie zuvor ihr Gesicht und ihren Schädel berührt hatte, vor einen Spiegel stellte. Er nahm seinen Stab und deutete damit auf ihr Spiegelbild. Als er dann den Stab bewegte, drehte das Mädchen leicht den Kopf, als folge es den Bewegungen im Spiegel. M--- spürte, dass Herr von P--- seinem Erstaunen Ausdruck verleihen wollte, und gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen.
»Sind Sie sich bewusst, dass Sie Ihren Kopf bewegen?«
»Ja.«
»Gibt es einen Grund, warum Sie den Kopf bewegen?«
»Es ist, als folge ich etwas.«
»Folgen Sie einem Geräusch?«
»Nein, keinem Geräusch.«
»Folgen Sie einem Geruch?«
»Ich habe noch immer keinen Geruchssinn. Ich ... folge nur. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Das ist genug.«
M--- versicherte Herrn von P---, sein Haus stehe ihm und seiner Frau stets offen, doch seien in den folgenden Tagen nur wenige Fortschritte zu erwarten. In Wirklichkeit hielt er eine Heilung des Mädchens für wahrscheinlicher, wenn er es behandeln konnte, ohne dass ein Vater zugegen war, der ihm ein Tyrann zu sein schien, und eine Mutter, die, vielleicht aufgrund ihres
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