Unbefugtes Betreten
italienischen Blutes, anscheinend zur Hysterie neigte. Es bestand noch immer die Möglichkeit, dass Maria Theresias Blindheit auf einer Verkümmerung des Sehnervs beruhte, und in dem Fall konnte der Magnetismus so wenig ausrichten wie jedes andere bekannteVerfahren. Aber M--- bezweifelte das. Die von ihm beobachteten Konvulsionen und die Symptome, die ihm berichtet worden waren – all das deutete auf eine Störung des gesamten Nervensystems infolge eines starken Schocks hin. Da es weder Zeugen aus der damaligen Zeit noch Erinnerungen der Patientin gab, war nicht zu ermitteln, welcher Art dieser Schock gewesen sein mochte. Das bereitete M--- keine übermäßigen Sorgen: Er behandelte die Auswirkungen, nicht die Ursache. Ja, vielleicht war es ein Glück, dass das Fräulein sich nicht erinnern konnte, welches Ereignis genau das alles ausgelöst hatte.
In den zwei Jahren zuvor hatte M--- immer klarer erkannt, dass die Berührung der menschlichen Hand von wesentlicher, anregender Bedeutung war, wenn er einen Patienten an die notwendige Krisis heranführen wollte. Anfangs sollte eine Berührung des Patienten während des Magnetisierens beruhigend oder im besten Falle unterstützend wirken. Wurden Magneten zum Beispiel seitlich am Ohr angelegt, schien es eine natürliche Geste zu sein, über das Ohr zu streichen und damit die gewünschte Neuausrichtung zu bekräftigen. Doch war M--- nicht entgangen, dass, wenn alle günstigen Bedingungen für die Heilung geschaffen waren und ein Kreis von Patienten im sanften Kerzenschein um den baquet saß, Patienten oft augenblicklich zur Krisis gebracht wurden, wenn er als Musiker seine Finger von der rotierenden Glasharmonika nahm und sie dann als Arzt auf den betroffenen Körperteil legte. M--- sann zuweilen darüber nach, wie viel der Einfluss des Magnetismus und wie viel der des Magnetiseurs selbst bewirken mochte. Von diesen weitergehenden Überlegungen wurde Maria Theresia nicht unterrichtet, wie sie auch nicht aufgefordert wurde, sich zu anderen Patienten um den Eichenzuber zu gesellen.
»IhreBehandlung verursacht Schmerzen.«
»Nein. Die Schmerzen werden davon verursacht, dass Sie allmählich zu sehen beginnen. Wenn Sie in den Spiegel schauen, sehen Sie den Stab, den ich halte, und wenden den Kopf, um ihm zu folgen. Sie sagen selbst, dass sich da ein Umriss bewegt.«
»Aber Sie behandeln mich. Und ich empfinde Schmerzen.«
»Die Schmerzen sind Zeichen einer heilsamen Reaktion auf die Krisis. Die Schmerzen zeugen davon, dass Ihr Sehnerv und Ihre Retina, die so lange nicht in Gebrauch waren, wieder aktiv werden.«
»Andere Ärzte haben mir gleichfalls gesagt, die Schmerzen, die sie mir zufügten, seien notwendig und heilsam. Sie sind auch Doktor der Philosophie?«
»Das ist richtig.«
»Philosophen finden für alles eine Erklärung.«
M--- nahm das nicht übel, ja, diese Einstellung gefiel ihm.
Maria Theresias neue Lichtempfindlichkeit war derart, dass er ihr die Augen mit einem dreifach gefalteten Tuch verbinden musste, das ständig angelegt blieb, wenn sie nicht behandelt wurde. Er hatte damit begonnen, dass er ihr in einer gewissen Entfernung gleichartige Gegenstände vorstellte, die entweder weiß oder schwarz waren. Die schwarzen Gegenstände nahm sie ohne unangenehme Empfindungen wahr, doch bei den weißen zuckte sie zusammen und berichtete, der Schmerz, den sie in ihren Augen hervorriefen, sei wie das Streichen einer weichen Bürste über die Retina; auch lösten sie ein Schwindelgefühl in ihr aus. Daher entfernte M--- alle weißen Gegenstände.
Als Nächstes machte er die Patientin mit den Zwischenfarbenbekannt. Maria Theresia konnte sie unterscheiden, aber nicht beschreiben, wie sie auf sie wirkten – mit Ausnahme der Farbe Schwarz, die, wie sie sagte, das Abbild ihrer früheren Blindheit war. Als den Farben Namen zugeteilt wurden, nannte sie oft nicht den richtigen Namen, wenn ihr die Farbe das nächste Mal gezeigt wurde. Ebenso wenig konnte sie abschätzen, in welcher Entfernung sich ein Gegenstand von ihr befand, und meinte, alles sei in ihrer Reichweite; so streckte sie die Hände aus, um nach Dingen zu greifen, die gut sechs Meter entfernt waren. Auch hielt der Eindruck eines Gegenstands auf ihrer Retina in diesen frühen Tagen bis zu einer Minute an. Daher musste sie die Augen mit den Händen bedecken, bis der Eindruck nachließ, sonst hätte sie ihn nicht von dem nächsten ihr gezeigten Gegenstand unterscheiden können. Des Weiteren hatte sie, da die
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