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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Augenmuskeln seit Langem nicht betätigt worden waren, keine Übung darin, den Blick wandern zu lassen, nach Gegenständen zu suchen, sich auf diese zu konzentrieren und ihre Lage zu erkennen.
    Es war auch nicht so, dass das Hochgefühl, das M--- wie die Eltern des Mädchens empfanden, als Maria Theresia erstmals Licht und Konturen wahrnahm, von der Patientin selbst geteilt wurde. Was da in ihr Leben trat, war nicht, wie sie erwartet hatte, ein Panorama der Welt, die so lange vor ihr verborgen gewesen und ihr so lange von anderen geschildert worden war; geschweige denn, dass es ein Verständnis dieser Welt gab. Stattdessen häufte sich eine größere Verwirrung auf die ohnehin schon bestehende Verwirrung – ein Zustand, den die Augenschmerzen und Schwindelgefühle noch verschärften. Die Melancholie, welche die Kehrseite ihrer natürlichen Fröhlichkeit bildete, kam nun immer mehr zum Vorschein.
    M---bemerkte dies und beschloss, die Behandlung langsamer fortzuführen und die Stunden der Muße und Ruhe so angenehm wie möglich zu gestalten. Er förderte den vertrauten Umgang mit den beiden anderen jungen Frauen, die im Hause wohnten: Fräulein Ossine, die achtzehnjährige Tochter eines Armeeoffiziers, die an eitriger Phthisis und nervöser Melancholie litt, und die neunzehnjährige Zwelferine, die mit zwei Jahren erblindet war und die M--- in einem Waisenhaus gefunden hatte und auf eigene Kosten behandelte. Jede hatte etwas mit einer der anderen gemein: Maria Theresia wie Fräulein Ossine stammten aus guter Familie und bezogen eine kaiserliche Pension; Maria Theresia und Zwelferine waren blind; Zwelferine und Fräulein Ossine neigten beide zu periodisch auftretendem Blut-Erbrechen.
    Dieser Umgang war eine nützliche Ablenkung; doch M--- meinte, Maria Theresia brauche auch mehrere Stunden am Tag, die friedlichen und vertrauten Angelegenheiten gewidmet waren. Daher gewöhnte er sich an, sich zu ihr zu setzen, über Themen zu sprechen, die von ihren unmittelbaren Sorgen weit entfernt waren, und ihr aus Büchern aus seiner Bibliothek vorzulesen. Manchmal musizierten sie zusammen, sie mit verbundenen Augen am Clavier, er am Violoncello.
    Er nutzte diese Zeit auch, um seine Patientin besser kennenzulernen, sich ein Bild von ihrer Aufrichtigkeit, ihrem Gedächtnis und ihrer Wesensart zu machen. Er bemerkte, dass sie auch in guter Stimmung nie eigenwillig war; sie zeigte weder die Arroganz ihres Vaters noch den Starrsinn der Mutter.
    So fragte er etwa: »Was möchten Sie heute Nachmittag gern tun?«
    Und sie antwortete: »Was schlagen Sie vor?«
    Oderer fragte: »Was möchten Sie spielen?«
    Und sie antwortete: »Was möchten Sie hören?«
    Als sie diese Höflichkeiten hinter sich gebracht hatten, entdeckte er, dass sie klare Meinungen hatte, zu denen sie durch den Einsatz des Verstandes gelangt war. Doch er befand auch, dass Maria Theresia über den üblichen Gehorsam eines Kindes hinaus gewöhnt war, den Anweisungen anderer zu folgen: denen der Eltern, der Lehrer, der Ärzte. Sie spielte wunderschön und mit einem glänzenden Gedächtnis, und M--- hatte den Eindruck, sie fühle sich nur am Clavier und in ein ihr vertrautes Stück versunken wahrhaft frei und erlaube sich, ausgelassen, emphatisch, nachdenklich zu sein. Während er ihr Profil betrachtete, ihre verbundenen Augen und ihre feste aufrechte Haltung, kam ihm in den Sinn, dass sein Unterfangen nicht ohne Gefahr war. Konnte es sein, dass ihr Talent und die Freude, die sie offenbar daran hatte, mit ihrer Blindheit in einem Zusammenhang stand, den er nicht ganz verstand? Und dann, während er den geübten, leichten Bewegungen ihrer Hände folgte, bisweilen kraftvoll und federnd, dann wieder so sachte wie ein Farn, der sich in einem Lufthauch wiegt, ertappte er sich bei der Überlegung, wie der erste Anblick einer Tastatur auf sie wirken könnte. Ob die weißen Tasten sie in Aufruhr versetzen, die schwarzen sie nur an die Blindheit erinnern würden?
    Die tägliche gemeinsame Arbeit ging weiter. Bislang war Maria Theresia nur eine Reihe statischer Gegenstände vorgeführt worden: Sein Ziel war, Form, Farbe, Lage und Entfernung einzuführen und sie damit vertraut zu machen. Nun wollte er ihr den Begriff der Bewegung und zugleich auch die Realität des menschlichen Antlitzes vorstellen. Sie war zwar an M---s Stimme gewöhnt, aber aus ihrem Gesichtsfeld hatte er sich bisher stets ferngehalten. Jetzt nahmer behutsam die Binden ab und ließ Maria Theresia sofort ihre Augen

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