Unbefugtes Betreten
mit den Händen bedecken. Dann trat er nach vorn und stellte sich in einiger Entfernung vor sie hin. Er sagte ihr, sie solle die Hände fortnehmen, und drehte dann langsam seinen Kopf so, dass sie ihn erst von der einen und dann von der anderen Seite sah.
Sie lachte. Und dann schlug sie die Hände, die sie von den Augen genommen hatte, vor ihren Mund. M---s ärztliches Interesse musste angesichts dieser Reaktion erst seine männliche Eitelkeit bezwingen. Dann nahm Maria Theresia die Hände vom Mund, legte sie über die Augen, löste sie wenige Sekunden darauf und schaute ihn wiederum an. Und lachte wiederum.
»Was ist das?«, fragte sie und deutete mit dem Finger.
»Das?«
»Ja, das.« Sie kicherte in sich hinein auf eine Art, die er unter anderen Umständen als ungehörig empfunden hätte.
»Das ist eine Nase.«
»Das ist lächerlich.«
»Nur Sie besitzen die Grausamkeit, so eine Bemerkung zu machen«, sagte er und tat, als sei er gekränkt. »Andere finden diese Nase akzeptabel, ja sogar hübsch.«
»Sind alle ... Nasen so?«
»Es gibt Unterschiede, aber, mein reizendes Fräulein, ich muss Sie warnen – als Nase ist sie keinesfalls ungewöhnlich.«
»Dann werde ich viel Grund zum Lachen haben. Ich muss Zwelferine von den Nasen erzählen.«
Er entschloss sich zu einem weiteren Experiment. Maria Theresia hatte sich stets an der Gesellschaft und der Zuneigung des Haushunds erfreut, eines großen gutmütigen Tiers unbestimmter Rasse. Nun ging M--- zu der mit einem Vorhang verhängten Tür, öffnete sie einen Spalt und pfiff.
ZwanzigSekunden darauf sagte Maria Theresia: »Oh, ein Hund ist ein viel erfreulicherer Anblick als ein Mensch.«
»Mit dieser Ansicht stehen Sie leider nicht allein.«
Nun folgte eine Zeit, in der Maria Theresias zunehmendes Sehvermögen zu vermehrter Fröhlichkeit führte, während ihr Ungeschick und ihre Irrtümer angesichts dieser neu entdeckten Welt sie in die Melancholie hinabzogen. Eines Abends führte M--- sie nach draußen in den dunklen Garten und schlug vor, sie möge den Kopf nach hinten neigen. In jener Nacht strahlte der Himmel. M--- musste unwillkürlich denken: wiederum Schwarz und Weiß, doch zum Glück weitaus mehr Schwarz als Weiß. Aber die Reaktion des Mädchens nahm ihm jede Furcht. Es stand verwundert da, mit zurückgelehntem Kopf und offenem Mund, drehte sich ab und zu um, deutete mit dem Finger, sagte kein einziges Wort. Maria Theresia ging nicht auf sein Angebot ein, ihr die Sternbilder zu zeigen; sie wollte nicht, dass Worte sich in ihr Staunen mischten, und schaute weiter, bis ihr Nacken schmerzte. Von diesem Abend an wurden visuelle Erscheinungen jeglicher Art automatisch mit einem Sternenhimmel verglichen – und für minderwertig befunden.
Obwohl M--- die Behandlung jeden Morgen auf genau dieselbe Weise fortführte, tat er das jetzt mit einer Art vorgetäuschter Konzentration. In seinem Innern herrschte ein Widerstreit zweier Denkweisen und zweier Seiten seiner geistigen Disposition. Der Doktor der Philosophie behauptete, nun sei das allem zugrunde liegende universale Element doch gewiss in Form des Magnetismus offenbart. Der Doktor der Medizin behauptete, der Magnetismus habe weniger zur Besserung der Patientin beigetragen als die Kraft der Berührung, und selbst das Handauflegen sei lediglichein symbolischer Akt, genau wie das Auflegen der Magneten und des Stabs. In Wahrheit bestehe hier eine Kollaboration oder Komplizenschaft zwischen Arzt und Patientin, sodass seine Gegenwart und Autorität der Patientin erlaube, sich selbst zu heilen. Von dieser zweiten Erklärung sprach er zu niemandem, und zu seiner Patientin schon gar nicht.
Maria Theresias Eltern staunten ebenso über die weitere Besserung ihrer Tochter wie diese über den Sternenhimmel. Als sich die Kunde davon verbreitete, fanden sich Freunde und Gratulanten in der Landstraße 261 ein, um Zeugen dieses Wunders zu werden. Oft blieben Passanten vor dem Haus stehen in der Hoffnung, einen Blick auf die berühmte Patientin zu erhaschen; und jeden Tag kamen Briefe an, die den Arzt an ein Krankenbett in allen Teilen der Stadt baten. Anfangs ließ M--- Maria Theresia freudig ihre Fähigkeit zur Unterscheidung von Farben und Formen demonstrieren, auch wenn sie diese noch nicht immer fehlerfrei zu benennen vermochte. Doch da sie solche Auftritte erkennbar ermüdeten, grenzte er die Zahl der Besucher strikt ein. Diese plötzliche Entscheidung hatte zur Folge, dass die Gerüchte von einer Wunderheilung
Weitere Kostenlose Bücher