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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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mit fester Stimme. Herr von P--- hielt inne, unsicher, ob er über den Doktor herfallen, seine Tochter retten oder seine Frau trösten sollte. Da er sich nicht entscheidenkonnte, begnügte er sich mit einer Wiederholung seiner Drohungen. Die Tochter weinte, die Mutter schrie, der Arzt versuchte, vernünftig zu argumentieren, der Vater versprach lärmend Chaos und Tod. M--- bewahrte soweit kühlen Kopf, um darüber zu sinnieren, dass der junge Mozart dieses opernhafte Quartett sicherlich mit Vergnügen vertont hätte.
    Am Ende konnte der Vater beschwichtigt und anschließend entwaffnet werden. Er ging unter Verwünschungen ab und hatte seine Frau offenbar vergessen, die noch einen Moment stehen blieb und zwischen M--- und ihrer Tochter hin- und herschaute, ehe sie sich selbst davonmachte. M--- war sofort und den ganzen restlichen Tag über bemüht, Maria Theresia zu beruhigen. Dabei kam er zu dem Schluss, seine ursprüngliche Vermutung habe sich bestätigt: Maria Theresias Blindheit war zweifellos eine hysterische Reaktion auf das ebenso hysterische Betragen von Vater, Mutter oder beiden zugleich. Dass ein empfindsames, künstlerisch veranlagtes Kind sich angesichts derartiger emotionaler Attacken instinktiv vor der Welt verschloss, erschien nur vernünftig, ja unausweichlich. Und nun machten die tobenden Eltern, die den Zustand des Mädchens erst verschuldet hatten, diesen noch schlimmer.
    Was mochte diesen plötzlichen, verderblichen Ausbruch ausgelöst haben? Gewiss mehr als eine bloße Missachtung des elterlichen Willens. Daher versuchte M---, sich die Situation aus der Perspektive der Eltern vorzustellen. Ein Kind erblindet, alle bekannten Heilmittel versagen, bis nach vielen Jahren ein neuer Arzt das Mädchen mit einem neuartigen Verfahren allmählich wieder sehend macht. Die Prognose ist optimistisch, und endlich werden die Eltern für ihre Liebe, Klugheit und ihren medizinischen Mut belohnt.Doch dann beginnt das Mädchen zu spielen, und plötzlich steht für die Eltern die Welt Kopf. Vordem hatten sie eine blinde Virtuosin in ihrer Obhut; nun hatte das Augenlicht ihre Tochter zu einer mittelmäßigen Künstlerin gemacht. Wenn sie weiterhin so spielte, wäre ihre Karriere beendet. Doch selbst angenommen, sie würde all ihr früheres Können wiedererlangen, so fehlte ihr doch die Einzigartigkeit der Blindheit. Sie wäre nur eine Pianistin unter vielen anderen. Und die Kaiserin hätte keinen Grund, ihr weiterhin eine Gnadenpension auszusetzen. Zweihundert Golddukaten waren eine hübsche Summe, und wie sollten sie ohne dieses Geld Werke bei führenden Komponisten in Auftrag geben?
    M--- verstand dieses Dilemma, aber es konnte nicht seine oberste Sorge sein. Er war Arzt und kein Musikimpresario. Auf jeden Fall war er überzeugt, wenn Maria Theresia sich erst an den Anblick ihrer Hände auf den Tasten gewöhnt hätte und die Wahrnehmung sich nicht mehr auf ihren Vortrag auswirkte, dann würde ihr Können nicht nur wiederkehren, sondern sich weiter entwickeln und verbessern. Denn wie sollte Blindheit von Vorteil sein? Außerdem hatte sich das Mädchen den Eltern offen widersetzt und wollte die Behandlung fortführen. Wie konnte er Maria Theresias Hoffnungen enttäuschen? Er würde ihr Recht verteidigen, unter seinem Dach zu leben, selbst wenn er dazu Knüppel an seine Diener verteilen müsste.
    Doch Gefahr drohte nicht nur von den tobenden Eltern. Die Meinung bei Hofe und in der Gesellschaft hatte sich gegen den Arzt gewendet, der eine junge Frau eingesperrt hatte und sich jetzt weigerte, sie ihren Eltern zurückzugeben. Dass auch das Mädchen selbst sich weigerte, zu ihnen zurückzukehren, machte die Sache für M--- nicht besser: Manche sahen darin nur die Bestätigung, dass er ein Zaubererwar, ein Hexer, dessen hypnotische Kräfte vielleicht nicht heilen, aber ganz sicher andere zu seinen Sklaven machen konnten. Moralische Verfehlung paarte sich mit medizinischer Verfehlung, und so wurde ein Skandal geboren. In der Kaiserstadt erhob sich ein solcher Brodem dunkler Andeutungen, dass er Professor Stoerk zum Handeln bewog. Er zog seine frühere Anerkennung von M---s Wirken zurück und verfasste nunmehr, am zweiten Mai 177-, ein Schreiben mit der Forderung, M--- solle seine »Betrügereien« einstellen und das Mädchen zurückgeben.
    Wieder weigerte sich M---. Maria Theresia von P---, so antwortete er, leide an Krämpfen und Wahnvorstellungen. Man schickte einen Hofarzt, der sie untersuchte und Stoerk berichtete,

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