Unbefugtes Betreten
seiner Meinung nach lasse der Zustand der Patientin eine Rückkehr nicht zu. Damit hatte M--- vorerst Ruhe und widmete sich in den folgenden Wochen ausschließlich diesem Fall. Mit Worten, mit Magnetismus, mit der Berührung seiner Hände und mit dem Vertrauen der Patientin gelang es ihm, innerhalb von neun Tagen ihre nervöse Hysterie unter Kontrolle zu bekommen. Besser noch, binnen Kurzem zeigte sich, dass ihr Wahrnehmungsvermögen jetzt schärfer war als je zuvor, was darauf hindeutete, dass die Leitungsbahnen von Auge und Gehirn gekräftigt waren. Er fragte Maria Theresia vorerst nicht, ob sie spielen wolle; und auch sie schlug das nicht vor.
M--- wusste, dass es nicht möglich sein würde, Maria Theresia von P--- bis zu ihrer vollständigen Heilung bei sich zu behalten, doch er wollte sie nicht gehen lassen, bevor sie nicht stark genug war, sich der Welt zu erwehren. Nach fünfwöchigen Gefechten wurde ein Abkommen erzielt: M--- würde das Mädchen wieder in die Obhut der Eltern geben, und sie würden M--- erlauben, ihre Tochter weiterhin zu behandeln, wann immer es nötig wäre. Als dieserFriedensvertrag besiegelt war, wurde Maria Theresia am 8. Juni 177- übergeben.
An diesem Tag sah M--- sie zum letzten Mal. Die von P---s brachen unverzüglich ihr Wort, hielten ihre Tochter unter strenger Bewachung und verboten ihr jeden Kontakt zu M---. Wir können nicht wissen, was in jenem Haus gesagt und getan wurde, wir können nur wissen, was die vorhersehbare Folge war: Maria Theresia fiel umgehend wieder in die Blindheit zurück und sollte in ihren verbleibenden siebenundvierzig Lebensjahren nicht wieder aus diesem Zustand hinauskommen.
Über Maria Theresias Qualen, über ihr seelisches Leid und ihre geistigen Betrachtungen liegen uns keine Berichte vor. Doch zumindest war ihr die Welt fortwährender Dunkelheit vertraut. Wir dürfen annehmen, dass sie jede Hoffnung auf Heilung und auch auf ein Entkommen von ihren Eltern aufgab; wir wissen allerdings, dass sie ihre Karriere wieder aufnahm, zunächst als Pianistin und Sängerin, dann als Komponistin und schließlich als Lehrerin. Sie erlernte den Gebrauch eines Notensetzbretts, das ihr Sekretär und Librettist Johann Riedinger für sie erfunden hatte; des Weiteren besaß sie eine Handdruckpresse für ihre Korrespondenz. Ihr Ruhm verbreitete sich in ganz Europa; sie kannte sechzig Konzerte auswendig und trat damit in Prag, London und Berlin auf.
M--- aber wurde von der Medizinischen Fakultät und der Sittenkommission aus der Kaiserstadt W--- vertrieben, eine Kombination, die dafür sorgte, dass er dort halb als Scharlatan, halb als Verführer in Erinnerung blieb. Er zog sich erst in die Schweiz zurück und ließ sich dann in Paris nieder. 178-, sieben Jahre nach ihrer letzten Begegnung, kam Maria Theresia von P--- zu einem Auftritt in die französische Hauptstadt. In den Tuilerien stellte sie in Anwesenheitvon Ludwig XVI . und Marie Antoinette das Konzert vor, das Mozart für sie geschrieben hatte. Sie traf nicht mit M--- zusammen; wir wissen auch nicht, ob einer von beiden dies gewünscht hätte. Maria Theresia lebte weiter in Dunkelheit, verdienstvoll und gefeiert bis zu ihrem Tod im Jahre 182-.
M--- war neun Jahre zuvor im Alter von einundachtzig Jahren verstorben, ohne dass seine Geisteskraft und seine Leidenschaft für die Musik nachgelassen hätten. Als er in Meersburg am Ufer des Bodensees im Sterben lag, schickte er nach seinem jungen Freund F---, einem Seminaristen, damit er ihm auf der Glasharmonika vorspiele, die ihn seit seinem Auszug aus der Landstraße 261 auf allen seinen Reisen begleitet hatte. Einem Bericht zufolge wurden seine Todesqualen gelindert, als er ein letztes Mal der Sphärenmusik lauschen durfte. Einem anderen Bericht zufolge wurde der junge Seminarist aufgehalten, und M--- starb, bevor F--- seine Kreidefinger auf das rotierende Glas legen konnte.
Carcassonne
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Im Sommer 1839 hebt ein Mann ein Teleskop an das Auge und betrachtet die brasilianische Küstenstadt Laguna. Er ist ein ausländischer Guerillaführer, dessen jüngster Erfolg die Kapitulation der kaiserlichen Flotte herbeigeführt hat. Der Freiheitskämpfer steht an Bord des gekaperten Flaggschiffs, eines Schoners namens Itaparica mit Toppsegel und sieben Kanonen, der nun in der Lagune vor Anker liegt, die der Stadt ihren Namen gab. Das Teleskop gewährt den Blick auf einen hügeligen Stadtteil, der allgemein die Barra heißt und einige schlichte, aber malerische Gebäude
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