Unbefugtes Betreten
ebenso zunahmen wie der Argwohn einiger Kollegen an der Medizinischen Fakultät. Obendrein sah die Kirche den Fall nun mit Unbehagen, da M--- dem allgemeinen Verständnis nach nur den befallenen Körperteil eines Kranken zu berühren brauchte, und schon war die Krankheit geheilt. Dass ein anderer als Jesus Christus durch Handauflegen heilen könne, empfanden viele Angehörige des Klerus als Blasphemie.
M--- wusste von diesen Gerüchten, war aber zuversichtlich, da er die Unterstützung von Professor Stoerk hatte, der in die Landstraße 261 gekommen war und sich offiziell vonder Wirkung des neuen Verfahrens beeindruckt gezeigt hatte. Was konnte es da schon bedeuten, wenn andere Mitglieder der Fakultät gegen ihn murrten oder gar die Verleumdung verbreiteten, die neu erworbene Fähigkeit seiner Patientin zum Benennen von Farben und Gegenständen sei in Wirklichkeit das Ergebnis gründlicher Schulung? Rückständige, Begriffsstutzige und Neider gab es in jedem Beruf. Auf lange Sicht würde man seine Methoden verstehen, die Heilungen würden zunehmen, und jeder vernünftige Mensch müsste ihm Glauben schenken.
Als Maria Theresia einmal ausgesprochen ruhigen Gemüts war, lud M--- ihre Eltern auf den Nachmittag ein. Dann schlug er vor, seine Patientin möge sich an ihr Instrument setzen und ohne Begleitung und ohne Augenbinde spielen. Sie stimmte begeistert zu, und alle vier begaben sich ins Musikzimmer. Für Herrn von P--- und seine Frau wurden Stühle aufgestellt, während M--- seinen Schemel nahe ans Clavier rückte, um Maria Theresias Hände, ihre Augen und ihre seelische Verfassung besser beobachten zu können. Sie holte mehrmals tief Luft, und dann, nach einer fast unerträglichen Pause, waren die ersten Töne einer Haydn-Sonate zu hören.
Es war ein Fiasko. Man hätte meinen können, Maria Theresia sei eine Anfängerin und die Sonate ein Stück, das sie noch nie gespielt hatte. Der Einsatz der Finger war unbeholfen, die Rhythmik fehlerhaft; es war eine Musik ohne Anmut, Esprit und Zartgefühl. Als der erste Satz holpernd und verworren zu Ende ging, trat eine Stille ein, in der M--- spürte, wie die Eltern Blicke wechselten. Dann setzte die Musik plötzlich von Neuem ein, diesmal sicher, strahlend und perfekt. Er schaute die Eltern an, doch diese hatten nur Augen für ihre Tochter. Als M--- sich dem Clavier zuwandte, erkannte er den Grund für diese plötzliche Brillanz:Das Mädchen hatte die Augen fest geschlossen und das Kinn hoch über die Tasten erhoben.
Als Maria Theresia ans Ende des Satzes kam, öffnete sie die Augen, senkte den Blick und begann wieder von vorn. Das Ergebnis war wiederum Chaos, und diesmal meinte M---, den Grund erraten zu können: Sie beobachtete wie gebannt ihre Hände. Und just dieses Beobachten machte offenbar ihre Fähigkeiten zunichte. Von den eigenen Fingern und deren Bewegungen über die Tasten fasziniert, war sie nicht imstande, die Finger vollständig zu beherrschen. Sie verfolgte deren Ungehorsam bis ans Ende des Satzes, dann stand sie auf und lief zur Tür.
Wieder trat Stille ein.
Schießlich sagte M---: »Das war zu erwarten.«
Herr von P--- erwiderte zornesrot: »Es ist ein Fiasko.«
»So etwas braucht seine Zeit. Es wird mit jedem Tag besser werden.«
»Es ist ein Fiasko. Wenn das bekannt wird, ist es das Ende ihrer Karriere.«
Törichterweise stellte M--- die Frage: »Was wäre Ihnen lieber, dass Ihre Tochter sehen oder spielen kann?«
Herr von P--- war wutentbrannt aufgesprungen, seine Frau stand neben ihm. »Mein Herr, ich kann mich nicht entsinnen, dass Sie uns vor diese Wahl gestellt hätten, als wir unsere Tochter zu Ihnen brachten.«
Als sie gegangen waren, fand M--- das Mädchen in einem beklagenswerten Zustand vor. Um es zu beruhigen, sagte er, es sei nicht verwunderlich, dass der Anblick der Finger ihr Spiel verwirrt habe.
»Wenn es nicht verwunderlich ist, warum haben Sie mich dann nicht gewarnt?«
Er erinnerte sie daran, dass ihr Sehvermögen sich beinahe täglich verbessert habe, und daher müsse sich ihr Spiel unweigerlichgleichfalls verbessern, wenn sie sich einmal an die Erscheinung ihrer Finger auf den Tasten gewöhnt habe.
»Darum habe ich das Stück ein drittes Mal gespielt. Und es war noch schlimmer als beim ersten Mal.«
M--- widersprach nicht. Er wusste aus eigener Erfahrung um die entscheidende Rolle der Nerven in künstlerischen Dingen. Spielte man schlecht, dann drückte das aufs Gemüt; war man bedrückt, dann spielte man noch schlechter
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