Unbefugtes Betreten
Meinungsaustausch nicht gleich danach aufgeschrieben hätte, hätte ich ihn womöglich für eine Erinnerung aus einem feuchten Traum gehalten.
Ein Freund von mir ist Psychiater und behauptet, es gebe einen direkten Zusammenhang zwischen dem Interesse am Essen und dem Interesse an Sex. Der wollüstige Schlemmer ist fast schon ein Klischee, während eine Aversion gegen Essen oft mit erotischem Desinteresse einhergeht. Was den normalen mittleren Teil des Spektrums betrifft: Ich kenne Leute, die aufgrund der Kreise, in denen sie sich bewegen, ihr Interesse am Essen übertrieben darstellen; oft geben solche Leute (wiederum aufgrund des Gruppenzwangs) womöglich auch mehr Interesse an Sex vor, als sie tatsächlich haben. Mir fallen auch Gegenbeispiele ein: Paare, bei denen der Appetit auf Essen, Kochen und Mahlzeiten im Restaurant den Appetit auf Sex verdrängt hat und bei denen das Bett nach dem Essen ein Ort der Ruhe statt der Aktivität ist. Doch im Großen und Ganzen würde ich sagen, an der Theorie ist etwas dran.
Die Erwartung eines Erlebnisses beherrscht und verzerrt das eigentliche Erlebnis. In der Spermaverkostung kenne ich mich vielleicht nicht aus, in der Weinverkostung aber sehr wohl. Wenn man ein Glas Wein vorgesetzt bekommt, kann man das nicht unvoreingenommen beurteilen. Zunächst mal mag man das Zeug im Grunde vielleicht gar nicht. Doch selbst wenn man es mag, kommen noch vor dem ersten Schluck viele unterschwellige Komponenten ins Spiel. Welche Farbe der Wein hat, wie er riecht, in was füreinem Glas er serviert wird, was er kostet, wer ihn bezahlt, wo man sich befindet, wie man aufgelegt ist, ob man diesen Wein schon einmal getrunken hat oder nicht. Dieses Vorwissen lässt sich einfach nicht ausschließen. Es lässt sich nur durch radikale Maßnahmen umgehen. Wenn man die Augen verbunden und eine Wäscheklammer auf der Nase hat und dann ein Glas Wein gereicht bekommt, kann selbst der größte Weinkenner der Welt nicht die elementarsten Eigenschaften des Weins erkennen. Nicht einmal, ob es ein roter oder ein weißer ist.
Von allen unseren Sinnen hat dieser den breitesten Anwendungsbereich, von einem kurzen Eindruck auf der Zunge bis zur akademisch-ästhetischen Betrachtung eines Gemäldes. Außerdem ist es der Sinn, der uns am genauesten kennzeichnet. Wir mögen ein besserer oder schlechterer Mensch sein, glücklich oder traurig, erfolgreich oder ein Versager, doch was wir – innerhalb dieser breiteren Kategorien – sind , wie wir uns im Unterschied zu unserer genetischen Bestimmung selbst bestimmen, das bezeichnen wir als »Geschmack«. Aber das Wort führt – vielleicht wegen seiner Spannbreite – leicht in die Irre. »Geschmack« kann ruhige Überlegung bedeuten, während uns seine Ableitungen – geschmackvoll, Geschmacksfrage, geschmacklos, Geschmacklosigkeit – in eine Welt feinster Differenzierungen, von Snobismus, gesellschaftlichen Werten und Heimtextilien führen. Wahrer Geschmack, eigentlicher Geschmack ist viel instinktiver und unreflektierter. Er sagt ich, hier, jetzt, dies, du. Er sagt, lasst das Boot herab und rudert mich an Land. Dowell, der Erzähler in Ford Madox Fords Die allertraurigste Geschichte , sagt über Nancy Rufford: »Ich wollte sie einfach heiraten, wie manche Leute nach Carcassonne fahren wollen.« Sich zu verliebenist der heftigste Ausdruck von Geschmack, den wir kennen.
Und doch stellt die englische Sprache diesen Moment anscheinend nicht sehr gut dar. Wir haben keine Entsprechung für den coup de foudre , den Blitzschlag und Donnerhall der Liebe. Wir reden davon, dass es zwischen einem Paar »gefunkt« hat – aber das ist ein häuslicher und kein kosmischer Vergleich, als sollte das Paar praktisch denken und Schuhe mit Gummisohlen tragen. Wir sprechen von »Liebe auf den ersten Blick«, und die gibt es tatsächlich, sogar in England, aber der Ausdruck klingt nach einer recht höflichen Angelegenheit. Wir sagen, ihre Blicke hätten sich über die wimmelnde Menge in einem Raum hinweg getroffen. Ach, wie gesellig das wieder klingt. Über die wimmelnde Menge in einem Raum hinweg. Über die wimmelnde Menge in einem Hafen hinweg.
Anita Riberas starb in Wirklichkeit nicht »an Garibaldis Brust«, sondern prosaischer und nicht ganz so wie auf einer Lithografie. Sie starb, während der Freiheitskämpfer und drei seiner Anhänger sie, jeder eine Ecke ihrer Matratze haltend, von einem Karren in ein Bauernhaus trugen. Und dennoch sollten wir den Moment mit dem Teleskop und
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