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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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– und so, unaufhaltsam, immer weiter. Stattdessen verwies er auf die allgemeine Besserung von Maria Theresias Zustand. Auch damit gab sie sich nicht zufrieden.
    »In meiner Dunkelheit war die Musik mein ganzer Trost. Ins Licht hinaus geführt zu werden und dann die Fähigkeit zu spielen zu verlieren, das wäre ein grausamer Tausch.«
    »Das wird nicht geschehen. Es ist ausgeschlossen. Sie müssen mir vertrauen, dass dies nicht eintreten wird.«
    Er sah sie an und beobachtete, wie sich ein Stirnrunzeln zeigte und wieder verschwand. Schließlich antwortete sie: »Von der Frage des Schmerzes abgesehen, waren Sie stets meines Vertrauens würdig. Sie sagten, was eintreten könne, und es ist eingetreten. Darum, ja, ich vertraue Ihnen.«
    In den folgenden Tagen musste M--- erkennen, dass seine frühere Gleichgültigkeit gegen die Meinung der Außenwelt naiv gewesen war. Gewisse Angehörige der Medizinischen Fakultät stellten den Antrag, die Praxis der Magnetkur nur dann anzuerkennen, wenn M--- deren Wirkung bei einem anderen Patienten erneut erzielen könne, und das bei voller Beleuchtung und in Anwesenheit von sechs Gutachtern der Fakultät – Bedingungen, die, wie M--- wusste, die Wirkung der Kur zunichtemachen würden. Satirische Stimmen fragten bereits, ob künftig alle Ärzte mit Zauberstäbenausgestattet werden sollten. Gefährlicher noch, manch einer stellte die moralische Klugheit des Verfahrens in Frage. Ob es dem Status und Ansehen der Profession zuträglich sei, wenn einer der ihren junge Frauen in sein Haus hole, sie zu einem Klosterleben hinter geschlossenen Vorhängen zwinge und ihnen dann zwischen Töpfen mit magnetisiertem Wasser und zum Jaulen einer Glasharmonika die Hände auflege?
    Am 29. April 177- wurde Frau von P--- in M---s Arbeitszimmer geführt. Sie war offenkundig erregt und weigerte sich, Platz zu nehmen.
    »Ich bin hier, um Ihnen meine Tochter zu entziehen.«
    »Hat sie zu erkennen gegeben, dass sie die Behandlung abzubrechen wünscht?«
    »Ob sie wünscht ... Diese Frage, mein Herr, ist eine Unverschämtheit. Was sie wünscht, hat sich dem unterzuordnen, was ihre Eltern wünschen.«
    M--- sah sie ruhig an. »Dann werde ich sie holen.«
    »Nein. Läuten Sie einem Diener. Mir liegt nicht daran, dass Sie ihr Anweisung geben, wie sie zu antworten hat.«
    »Nun gut.« Er läutete; Maria Theresia wurde geholt; sie schaute ängstlich zwischen den beiden hin und her.
    »Ihre Mutter wünscht, dass Sie die Behandlung abbrechen und nach Hause zurückkehren.«
    »Was meinen Sie dazu?«
    »Ich meine, wenn Sie dies wünschen, kann ich mich dem nicht widersetzen.«
    »Danach habe ich nicht gefragt. Ich habe gefragt, was Sie als Arzt dazu meinen.«
    M--- warf einen Blick auf die Mutter. »Als … Arzt meine ich, dass Ihr Zustand noch immer labil ist. Ich halte es für durchaus möglich, dass eine vollständige Heilung erzielt werden kann. Ebenso ist es durchaus möglich, dass jede Besserung,die einmal verloren ging, nie wiedererlangt werden kann.«
    »Das ist sehr deutlich. Dann möchte ich bleiben. Ich wünsche zu bleiben.«
    Die Mutter brach augenblicklich in ein Geschrei und Getrampel aus, wie M--- es in der Kaiserstadt W--- noch nie erlebt hatte. Dieser Ausbruch ging weit über die natürliche Äußerung von Frau von P---s italienischem Blut hinaus, und er hätte sogar komisch sein können, hätte ihre nervöse Raserei bei ihrer Tochter nicht einen entsprechenden Anfall konvulsivischer Zuckungen ausgelöst.
    »Meine Dame, ich muss Sie bitten, sich zu beherrschen«, sagte er ruhig.
    Doch dies brachte die Mutter nur noch mehr in Rage, und angesichts zweier Quellen der Provokation fuhr sie fort, von der Frechheit, Halsstarrigkeit und Undankbarkeit ihrer Tochter zu keifen. Als M--- ihr die Hand auf den Arm legen wollte, fiel Frau von P--- über Maria Theresia her, packte sie und stieß sie kopfüber gegen die Wand. Unter dem Geschrei der Frauen rief M--- seine Dienerschaft herbei, um die Megäre im Zaum zu halten, die sich eben auf den Arzt selbst stürzen wollte. Plötzlich mischte sich eine weitere Stimme in den Tumult.
    »Geben Sie meine Tochter heraus! Wer mir in den Weg tritt, ist ein toter Mann!«
    Die Tür wurde gewaltsam aufgerissen, und dann erschien Herr von P--- selbst, eine eingerahmte Gestalt mit erhobenem Säbel. Er stürzte ins Arbeitszimmer und drohte, jeden in Stücke zu schlagen, der ihm Widerstand leisten würde.
    »Mein Herr, dann müssen Sie mich in Stücke schlagen«, antwortete M---

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