Unbefugtes Betreten
alles, was er zur Folge hatte, feiern. Denn das ist der Moment – der Moment des leidenschaftlich bewegten Geschmacks –, den wir suchen. Nur wenigen von uns steht ein Teleskop und ein Hafen zur Verfügung, und beim Zurückspulen der Erinnerungen entdecken wir vielleicht, dass auch die innigsten und längsten Liebesbeziehungen nur selten mit einer vollständigen Erkenntnis, mit einem in einer fremden Sprache verkündeten »Du musst die Meine sein« beginnen. Der Moment selbst mag sich als etwas anderes tarnen: Bewunderung, Mitleid, Bürokameradschaft,eine gemeinsame Gefahr, ein geteilter Gerechtigkeitssinn. Vielleicht ist der Moment zu erschreckend, um ihm auf der Stelle ins Gesicht zu sehen; daher tut die englische Sprache vielleicht recht daran, gallischen Pomp zu meiden. Ich habe einmal einen lange und glücklich verheirateten Mann gefragt, wo er seine Frau kennengelernt habe. »Auf einer Bürofeier«, antwortete er. Und was war sein erster Eindruck von ihr? »Ich fand sie sehr nett«, antwortete er.
Woher wissen wir dann, dass wir dem Moment leidenschaftlich bewegten Geschmacks trauen können, wie auch immer er sich tarnt? Wir wissen es nicht, auch wenn wir meinen, wir müssten es wissen, denn das ist unser einziger Anhaltspunkt. Eine Freundin von mir sagte einmal: »Du kannst mich in einen Raum voller Menschen führen, und wenn da ein Mann ist, dem das Wort ›Spinner‹ auf die Stirn geschrieben steht, würde ich direkt auf ihn zulaufen.« Ein anderer, zweimal verheirateter Mann gestand: »Ich habe schon daran gedacht, aus meiner Ehe auszubrechen, aber ich treffe immer eine so schlechte Wahl, dass ich nicht sicher sein kann, ob ich es beim nächsten Mal besser hinkriege, und das wäre doch eine sehr deprimierende Erfahrung.« Wer oder was kann uns in dem Moment eine Hilfe sein, wenn sich der stürmische Widerhall erhebt? Auf was vertrauen wir: den Anblick weiblicher Füße in Wanderstiefeln, den ungewohnten Reiz eines ausländischen Akzents, die mangelnde Durchblutung von Fingerspitzen gefolgt von wütender Selbstkritik? Einmal war ich bei einem jungverheirateten Paar zu Besuch, in dessen neuem Haus erstaunlich wenig Möbel standen. »Das Problem ist«, erläuterte die Frau, »dass er überhaupt keinen Geschmack hat und ich nur einen schlechten.« Wer sich eines schlechten Geschmacks bezichtigt, geht vermutlich vonder latenten Existenz irgendeines guten Geschmacks aus. Doch bei der Liebeswahl wissen nur wenige von uns, ob sie am Ende in einem Haus ohne Möbel sitzen.
Als ich Teil eines Paares wurde, schaute ich mir die Entwicklung und das Schicksal anderer Paare mit gesteigertem Eigeninteresse an. Ich war damals schon Anfang dreißig, und einige meiner Altersgenossen, die sich zehn Jahre früher zusammengefunden hatten, begannen sich bereits zu trennen. Mir fiel auf, dass die zwei Paare, deren Beziehung anscheinend der Zeit standhielt, deren Partner weiterhin ein fröhliches Interesse aneinander zeigten, jeweils – alle vier – schwule Männer über sechzig waren. Vielleicht war das nur ein statistisches Kuriosum; aber ich fragte mich doch, ob es einen Grund dafür gebe. Lag es daran, dass sie sich die lange Mühsal der Elternschaft erspart hatten, die heterosexuelle Beziehungen häufig zermürbt? Mag sein. War es etwas, was in ihrem Schwulsein begründet lag? Wahrscheinlich nicht, wenn ich mir schwule Paare meiner eigenen Generation ansehe. Ein Merkmal, das diese beiden Paare von den anderen unterschied, war, dass ihre Beziehung über eine lange Zeit und in vielen Ländern verboten gewesen wäre. Es kann gut sein, dass eine unter solchen Bedingungen eingegangene Bindung tiefer ist: Ich lege meine Sicherheit in deine Hände, und das an jedem Tag unseres gemeinsamen Lebens. Vielleicht gibt es einen Vergleich mit der Literatur: Bücher, die unter einem repressiven Regime geschrieben wurden, werden oft höher geschätzt als Bücher, die in einer Gesellschaft geschrieben werden, in der alles erlaubt ist. Nicht, dass Schriftsteller sich deshalb nach Unterdrückung sehnen sollten oder Liebespaare nach einem gesetzlichen Verbot.
»Ichwollte sie einfach heiraten, wie manche Leute nach Carcassonne gehen wollen«. Das erste Paar, T und H, lernte sich in den 1930er-Jahren kennen. T kam aus der englischen oberen Mittelschicht, sah gut aus, war begabt und bescheiden. H stammte aus einer jüdischen Familie in Wien, der es wirtschaftlich so schlecht ging, dass seine Mutter ihn als Kind (während sein Vater im Ersten
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