Unberuehrbar
auf- und wieder zuschwang.
Er und Blue waren allein.
Eine Ewigkeit, so schien ihm, blieb es still zwischen ihnen. Geisterhaft still, als wäre all dies nur ein Traum, in dem Red weder Geräusche hören noch sich bewegen konnte. Blue stand vor ihm, die Arme wie schützend um sich geschlungen. Und noch immer sah sie ihn nicht an. Sie war so klein. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter. War sie immer so klein gewesen?
Weitere endlose Sekunden verstrichen. Und schließlich begriffRed, dass nicht sie es sein würde, die den ersten Schritt tat.
Mühsam atmete er tief durch und wusste im gleichen Moment, dass er nicht mehr als ein Flüstern herausbringen würde.
»Hallo, Blue.«
Sie zuckte heftig zusammen, als hätte er ihr einen Revolver auf die Brust gesetzt. Dann aber hob sie endlich den Blick. Ihre Augen waren groß und glänzten hell im Mondlicht. Auf der Farm hatte Blue dunkle Augen gehabt. Rehbraun.
»Hallo«, wisperte sie. Ihre Lippen zitterten. »Ich … habe dich gesucht.«
Ein Kloß bildete sich in Reds Hals. Vergeblich versuchte er, ihn herunterzuschlucken und stattdessen zu lächeln. »Ich dich auch.«
Er wagte kaum, die Frage zu stellen. Der Hoffnung Raum zu geben. »Erinnerst du dich an mich?«
Sekundenlang sagte Blue nichts darauf. Sie sah ihn nur an mit ihren großen Augen, die so traurig waren, dass Red das Herz weh tat. Dann aber schüttelte sie den Kopf – eine so winzige Bewegung, dass sie kaum zu sehen war. »Nein. Tut mir leid. Nur daran … wie du bei mir warst. In der Zelle.« Ein bisschen zu hastig holte sie Atem. »Es tut mir auch leid, was ich dort getan habe! Furchtbar … furchtbar leid.«
Red schwieg. Das Begreifen, obwohl es nicht unerwartet kam, traf ihn schmerzhaft tief. Sie erinnerte sich nicht. Immer noch nicht. An keinen einzigen der kostbaren Momente, die er seit so vielen Monaten mit sich trug.
»Du musst mich für ein Monster halten.« Ihr Flüstern klang bitter.
Reds erster Gedanke war, entschieden zu widersprechen. Blue – ein Monster? Niemals!
Aber in Wahrheit wusste er noch viel zu genau, wie sich ihrunmenschlich starker Griff an seinem Kragen angefühlt hatte. Er konnte noch immer ihr Fauchen und Kreischen hören. Und er erinnerte sich viel zu gut an den blinden Hass auf ihrem Gesicht, als sie ihn angegriffen hatte. Red schloss für einen Moment die Augen und versuchte, das Bild von sich zu schieben. Aber es ging nicht.
»Willst du immer noch, dass ich dich töte?«
Blue fuhr sichtlich zusammen. »Nein!« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich meine … Es ist schwer zu erklären, ich … Ich hasse mich selbst so!« Sie presste die Lippen zusammen und legte hastig die Hand vor den Mund, wie um die langen Fangzähne zu verbergen, die im Mondlicht aufschimmerten. Noch einmal schüttelte sie den Kopf. Eine einzelne Träne rann über ihre bleiche Wange.
Mitleid schnürte Red die Brust zusammen. Vorsichtig hob er einen Arm und näherte seine Finger Blues Gesicht. Zuerst sah es aus, als wolle sie hastig zurückweichen. Dann aber ließ sie zu, dass er ihr behutsam den warmen Tropfen von der Wange wischte.
»Ich denke nicht, dass du ein Monster bist«, sagte er leise. »Ich … bin so froh, dich zu sehen.«
Und im gleichen Moment, als er es aussprach, wusste er, dass es die reine Wahrheit war. Er hätte keine Worte finden können, um zu beschreiben, was er gerade fühlte. Aber er begriff plötzlich mit beeindruckender Klarheit, dass es für ihn keine Rolle spielte, ob Blue sich an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnerte oder nicht. Nicht einmal, ob sie jetzt einen anderen Namen trug. Und tatsächlich war es ihm in diesem wundersamen Augenblick auch beinahe egal, dass sie ein Vampir war. Sie sprach wie Blue, bewegte sich wie Blue und sah aus wie Blue, und sie stand vor ihm, real und sehr lebendig. Natürlich war sie vor einem Jahr ein anderer Mensch gewesen – dochtraf das nicht auf ihn genauso zu? So war das nun einmal … wenn man lebte.
Das Lächeln fiel Red nun schon etwas leichter. Vor allem, da nun auch auf Blues Gesicht endlich ein Lächeln erschien – klein und noch immer traurig. Aber es war da.
Sie machte einen winzigen Schritt auf ihn zu und lehnte die Stirn an seine Schulter. Zaghaft fast, als habe sie Angst, ihn zu berühren. Ihre Finger gruben sich in den Stoff seines Pullovers. »Ich hatte solche Angst, ich würde dich nicht finden.«
Behutsam legte Red die Arme um sie, spürte, wie ihre schmale Brust sich mühsam weitete und ihr Herz hastig
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