Unberuehrbar
der sich nicht rührte und auch die Waffe nicht senkte.
»Nicht schießen!«, wiederholte er noch lauter und so eindringlich er konnte, während er langsam näher trat. »Er fliegt dir um die Ohren!«
Der Revolver in Reds Händen zuckte kurz, als wolle er Cedric so bedeuten, dass er ihn gehört hatte – aber er nahm ihn nicht herunter und sah sich auch nicht um. In seiner angespannten Haltung erkannte Cedric verbissene Entschlossenheit.
Ein wildes Grinsen entblößte Sids Fangzähne, als er Cedric triumphierend anfunkelte – noch immer ohne ein Anzeichen von Erkennen zu zeigen. »Unbefugten ist der Zutritt zur Station nicht gestattet.« Die Muskeln spielten unter seiner Haut. »Sie haben zehn Sekunden, um White Chapel zu verlassen. Ich zähle: Zehn …«
Auch Frei drehte sich jetzt zu Cedric um. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Ihre Augen aber waren klar und wach, während immer noch mehr Tränen herausfielen, ohne dass sie es wirklich zu bemerken schien – halb verstrickt in ihrer Erinnerung, wie sie war.
»Cedric!«
Ihr Ruf war drängend. Aber Cedric konnte sich jetzt nicht um sie kümmern.
»Neun …«
Er musste irgendwie zu Sid durchdringen, der inzwischen den stürmischen Wind zu sich zog, um auch ihm seine Energie zu nehmen, bis sie durch seine immer transparenter werdendenGlieder floss wie ein düster glühender Strom. Tief unter seinen Füßen spürte Cedric White Chapel bis in die Grundfesten erzittern, als im Treppenschacht auch die letzten Lichter ausgingen, um dem Wächter ihre Energie zu schenken.
»Acht …«
»Cedric, meine Erinnerung!«, rief Frei. »Sie ist gleich zu Ende! Was sollen wir machen?«
Und Sid lachte. Ein tiefer, kehliger Laut, der die aufgewühlte Luft erzittern ließ.
»SIEBEN!«, brüllte er.
Cedric überlegte nicht länger. Wenn Sid Erinnerungen brauchte, um zu bestehen, dann würde Cedric ihm Erinnerungen geben. Was auch immer dann geschehen mochte. Er rannte los.
»Sechs!« Sids Stimme war zu einem erwartungsvoll zitternden Flüstern herabgesunken. »Fünf und vier!«
»Verschwindet von hier!« Cedric packte Red an der Schulter und drückte seinen Arm mitsamt dem Revolver nach unten. »Geht zu Kris in die Biotechnik und bleibt dort!«
»Dre-e-i-i!«
Mühsam rappelte Frei sich hinter Cedric auf. »Aber Cedric, was ist mit …«
»JETZT!«, brüllte Cedric.
Und Frei gehorchte. Aus dem Augenwinkel sah Cedric noch, wie sie nach Reds Hand griff und ihn quer über das Dach zur Tür zerrte, die in den Treppenschacht führte, verfolgt von Sids triumphierendem Lachen. Dem Wächter von White Chapel konnte man nicht entkommen, indem man rannte.
»Zwei!«
Die Tür schlug hinter Frei und Red zu. Aber Cedric hörte es kaum. Er starrte zu seinem Wächter und Schützling hinauf, dessen Gestalt inzwischen kaum noch Substanz besaß. Derhagere Körper war nahezu durchsichtig, wie trübschwarzes Glas, hinter dem rotgolden glühend die Energie toste. Der Anblick tat Cedric in der Seele weh. Dorian würde dafür bezahlen, was er Sid angetan hatte, dachte er zornig.
Entschlossen streckte er die Hand aus und holte tief Luft, legte alle Verbundenheit, die die Jahre zwischen ihm und Sid geschaffen hatten, in seine Stimme.
»Sid! Komm sofort da runter, hörst du mich? Glaub mir, du willst nicht, dass ich dich holen komme!«
Für einen Wimpernschlag erstarrte die Gestalt des Wächters, als wäre sie einen winzigen Augenblick lang eingefroren.
Cedric dachte an den verschüchterten Jungen, der Sid gewesen war, als sie sich zum ersten Mal begegneten. An das Kind, das irrtümlich zum Vampir geworden war und sich ständig selbst zerriss, weil sein schwacher Körper die Blutgabe nicht beherrschen konnte. Ein Kind, dessen Gestalt mit Hilfe von Cedrics Gabe zu der eines jungen Mannes herangewachsen war und dessen Geist doch immer der eines Kindes blieb – eines wilden und unbändigen Kindes, das zugleich so anhänglich und auf eine zerzauste Art liebevoll war wie ein Klammeräffchen.
Er musste sich daran erinnern. Er musste.
»Schluss jetzt mit dem Unfug.« Unbeirrt starrte Cedric zu Sid hinauf und streckte seine Hand noch ein wenig weiter aus, während er sich bemühte, seine Stimme ruhig zu halten. »Komm her, aber ein bisschen plötzlich!«
Sids Gestalt zuckte und flackerte. In seinem Inneren, dort, wo sein Herz schlug, verdichtete sich die Energie zu einem gleißend pulsierenden Ball. »Eins …?«, murmelte er, aber seine Stimme klang plötzlich zweifelnd. Seine Muskeln
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