Unberuehrbar
Trauerweide, am Rand eines der Wege, die zwischen finsteren Baumriesen und düster funkelnden Wasserläufen hindurchführten. Gelegentlich kamen andere Vampire an ihnen vorbei – Gruppen von Frauen, die lachten und plauderten, vereinzelte Jogger, Spaziergänger mit ihren Hunden. Niemand beachtete sie. Und trotzdem wurde Frei das Gefühl nicht los, dass alle sie anstarrten.
Seit dem Samstag, an dem sie zum ersten Mal daran gescheitert war, eine Blumenzwiebel zum Keimen zu bringen, hatte sie eine harte Woche hinter sich gebracht. Viel zu oft war sie in diesen Tagen an sich selbst verzweifelt, und viel zu oft hätte sie am liebsten alles hingeworfen. Aber Cedric war, was das betraf, absolut unnachgiebig. Er ließ es sie wieder und wieder versuchen – besänftigte sie zwar, wenn sie vor Hoffnungslosigkeit außer sich war, aber zwang sie doch gleich danach, weiterzumachen, auch wenn sie längst glaubte, nicht mehr zu können. Frei wusste nie, ob sie ihn dafür hassen oder lieben sollte, und oft genug war sie nah daran gewesen, vor Frust und Wut einfach aus dem Fenster zu springen und davonzulaufen.
Aber nach und nach, Schritt für Schritt, war sie unter seinerAnleitung besser geworden. Inzwischen standen immerhin drei kräftige, gesunde Gladiolen auf dem Tisch an der Fensterfront, und es kostete Frei längst nicht mehr so viel Mühe, die Verbindung zu ihnen herzustellen und sie wachsen oder blühen zu lassen.
Doch sie hatte sich über diesen Fortschritt nur so lange freuen können, bis Cedric an diesem Samstagmorgen verkündet hatte, sie sei nun weit genug, um einen Ausflug in den Park zu machen. In den Park, das hieß dorthin, wo die Vampire waren, die sie bisher nur vom Fenster aus beobachtet hatte. Allein die Vorstellung, mitten unter ihnen zu sein, war für Freis Empfinden bei weitem zu überwältigend. Aber weil sie Cedric und seine Lehrmethoden inzwischen fast besser kannte, als ihr lieb war, hatte sie nicht einmal versucht zu widersprechen. Und nun saßen sie also hier.
Frei verkrampfte die Hände ineinander und hielt den Blick auf ihre Schuhspitzen gerichtet. Am liebsten hätte sie die Beine an die Brust gezogen und ihr Gesicht zwischen den Knien versteckt. Aber damit hätte sie erst recht die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie wünschte sich nur, die Zeit würde schneller vorübergehen, damit sie in die Sicherheit von Cedrics Wohnung hinter den getönten Scheiben zurückkehren konnte.
»Früher oder später«, sagte Cedric unvermittelt neben ihr, »wirst du dich an die Gesellschaft anderer gewöhnen müssen. Und auch an die Blicke von Fremden.«
Frei hob den Kopf. Cedrics Gesicht im Halbschatten von Weidenzweigen und Mondlicht war ruhig und sehr ernst. Manchmal war es ihr unheimlich, dachte Frei, wie genau diese gelben Augen stets zu sehen schienen, was in ihr vorging. Sie presste ihre Finger gegeneinander, bis es schmerzte. »Ich weiß«, murmelte sie.
»Die meisten von ihnen«, fuhr Cedric fort, »nehmen dich garnicht richtig wahr, auch wenn es sich für dich anders anfühlt. Aber ich kann dir versichern, sie denken kaum über dich nach.«
Frei runzelte ein wenig gereizt die Stirn. »Ach. Und woher willst du das so genau wissen?«
Cedric sah nicht länger zu ihr hin. Sein Blick ging den Weg hinunter und folgte den Schritten eines Pärchens, das eng umschlungen den mondbeschienenen Pfad entlang auf sie zukam. Aber auch ohne sein Gesicht zu sehen, hörte Frei an seiner Stimme, dass er die Brauen gehoben hatte, wie er es immer tat, wenn er der Ansicht war, dass sie sich unnötig bockig verhielt. »Weil ich ihnen zugehört habe.«
Frei riss die Augen auf. »Du hast … was?«
Nun wandte Cedric ihr doch wieder das Gesicht zu. »Das Leben, Frei«, erklärte er, »beinhaltet sehr viel mehr, als nur Pflanzen wachsen zu lassen. Die Möglichkeiten unserer Gabe schließen alles ein, was mit biochemischen Prozessen reguliert wird. Auch das Gehirn. Und das wiederum bedeutet, wenn wir es wollen und gelernt haben, kontrollieren wir auch die Gedanken.«
Frei starrte ihn ungläubig an. Das, dachte sie, erklärte natürlich einiges. »Das ist nicht dein Ernst. Du kannst Gedanken lesen?«
Cedric schüttelte leicht den Kopf. »Sei nicht albern. Du hast es doch selbst erlebt. Das sollte dich wirklich nicht überraschen.«
Frei biss sich auf die Unterlippe. Ja … sicher, es stimmte. Jedes Mal, wenn er sie behandelte, hatte er ihre Gedanken mühelos hören können. Es klang nur alles so viel unglaublicher, seit sie
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