Unberuehrbar
nicht. Wenn es so wäre, würde ich nicht meine Zeit damit verschwenden, es dir beizubringen.«
Frei presste die Lippen zusammen. »Aber …« Ihre Stimmefühlte sich plötzlich schrecklich kratzig an. »Du glaubst nicht, dass ich ihn finden werde, stimmt’s? Ich meine … Wofür soll ich das alles überhaupt lernen, wenn ich ihn sowieso nicht treffen kann? Wie viele Jahre muss ich üben, bis du sagst, dass ich so weit bin? Vielleicht ist er dann schon uralt oder tot!« Frei ballte die Fäuste und versuchte noch einmal verzweifelt, die Tränen zurückzudrängen. »Ich weiß doch nicht mal, ob er überhaupt noch etwas mit mir zu tun haben will, nachdem er … mich
so
gesehen hat …!« Sie starrte auf ihre Hände, auf die im Mondlicht graue Haut mit den dunklen Äderchen, die ausgezehrten, zittrigen Finger, die mehr an Spinnenbeine erinnerten als an menschliche Glieder. Grotesk und abstoßend. Es gab einfach keine anderen Worte, um ihren Anblick zu beschreiben. Ein trockenes Schluchzen schüttelte Freis Brustkorb.
Eine ganze Weile sah Cedric sie nur schweigend an. Dann legte er ihr behutsam die Hand auf den Kopf.
»Es wäre hilfreicher«, sagte er sanft, »wenn du weniger jammern und mehr üben würdest.« Er hob einen Mundwinkel, und obwohl das Lächeln kaum als solches zu erkennen war, wusste Frei doch, dass es eines sein sollte. »Weißt du, um ehrlich zu sein: Ich habe auch ein persönliches Interesse daran, dass du deinen Menschen so bald wie möglich findest. Und darum werde ich dir nicht erlauben, dass du aufgibst.«
Ruckartig hob Frei den Kopf. »Du … willst Red finden? Warum?«
Das schiefe Lächeln verschwand von Cedrics Gesicht. Ein Schatten fiel über seine Augen. »Du willst Red«, sagte er eine Spur zu ruhig. »Ich will Kris. Und zusammen finden wir sie.«
Frei starrte ihn an und wusste nicht, was sie erwidern sollte. Sie hätte auch gar nichts sagen können, weil ein dicker Kloß ihre Kehle verstopfte. Sollten ihr seine Worte Hoffnung machen?Sie war sich nicht sicher, ob das funktionierte. Oder ob es überhaupt etwas änderte.
Cedric schüttelte den Kopf, als könne er so die finsteren Gedanken vertreiben, und drückte ihre Finger. »Denk nicht zu viel darüber nach. Versuch, dich zu entspannen. Du machst das gut.«
Erst jetzt wurde Frei bewusst, dass das Rauschen der vielen Stimmen verstummt war, obwohl Cedric ihre Hand noch immer festhielt. Überrascht sah sie sich um, doch der Park war noch genauso belebt wie zuvor.
Sie atmete tief durch und streckte langsam die Beine wieder aus. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren linken Oberschenkel – den, der noch nicht gereinigt war. Frei biss die Zähne zusammen. Die Ausbildung ihrer Gabe war nicht das Einzige, was für ihre Begriffe viel zu langsam voranging.
Aber vielleicht, dachte sie und versuchte, den Kloß in ihrer Kehle endlich hinunterzuschlucken, wenn Cedric es sagte, dann würde sie es vielleicht doch irgendwann schaffen. Wenn sie endlich aufhörte, so viel Angst zu haben, konnte sie sich vielleicht trauen, nach und nach die Grenzen ihrer Fähigkeiten auszutesten – und sich schließlich selbst zu akzeptieren. Das Leben konnte schließlich nicht für jeden Vampir so düster, bedrückend und schmerzhaft sein.
Frei spürte, wie sich der Druck von Cedrics Fingern um ihre sanft verstärkte. Sie war auf dem richtigen Weg mit diesen Gedanken, sagte das Lächeln in seinen Mundwinkeln, auch wenn er sie jetzt nicht mehr ansah, sondern seinen Blick scheinbar ziellos durch den Park schweifen ließ. Mit seiner Hilfe würde sie es schaffen. Sie würde ein normaler Vampir sein. Eine Frau, die nicht angestarrt wurde, weil sie so ungesund und ausgezehrt aussah. Eine Frau, die mit einem Partner an ihrer Seite durch den Park spazieren und …
Frei krampfte die Finger um Cedrics Hand und schüttelte sich innerlich.
Nein. Das würde nicht gehen.
Denn der Partner, den sie wollte, war ein Mensch. Und so wenig Frei auch über die Welt wusste, in der sie zu leben lernen sollte – der Platz eines Menschen in dieser Gesellschaft war nicht an der Seite eines Vampirs. Sie würde sich über eine Lösung für dieses Problem Gedanken machen müssen. Aber erst einmal musste sie ihn finden. Und das würde sie.
Auch wenn sie noch nicht wusste, wie.
Kapitel Elf
Insomniac Mansion, Kenneth, Missouri
Der Mensch kniete vor Hannah nieder und neigte den Kopf ein Stück zur Seite. Die klaren Augen schlossen sich, und über seine leicht geöffneten Lippen
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