Unbescholten: Thriller (German Edition)
bewegte.
»Überfahr ihn«, sagte Albert leise.
Sie mochten den Hund beide nicht.
Sophie lächelte, ohne zu antworten.
Tom mixte im Wohnzimmer Drinks, Frank Sinatra sang, und Antônio Carlos Jobim fiel ein.
»Hallo, Tom.«
Den Mund voller Oliven, winkte er Sophie zu. Sophies Mutter Yvonne kam ihnen entgegen. Sie küsste Albert auf die Stirn, drückte Sophies Arm und verschwand wieder. Wie so oft trug sie neue weiße Sportschuhe.
Auf dem Teppich vor dem Fernseher saß Janes Freund Jesus aus Argentinien, den Ton hatte er ausgeschaltet.
»Hallo, Jesus.« Sophie sagte Hessuss .
Jesus war anders. Sophie wusste nicht, was genau an ihm nicht stimmte. Aber Jane schien aus irgendeinem Grund sehr glücklich mit ihm zu sein. Das war das Wichtigste, und irgendwie beneidete Sophie ihre Schwester darum.
Sophie trat in die Küche. Jane saß am Tisch und schnitt auf einem Schneidebrett Gemüse. Jane hasste es zu kochen. Sophie stellte den Kartoffelauflauf, den sie mitgebracht hatte, in den Ofen, küsste ihre Schwester aufs Haar und setzte sich neben sie. Sie sah zu, wie Jane mit viel Mühe eine Gurke in kleine Würfel schnitt. Sie schob das Brett ihrer Schwester hin.
An den Sonntagsessen nahmen nur Sophie und Albert, Mutter Yvonne und Tom regelmäßig teil. Jane und Jesus kamen dazu, wenn sie Lust hatten, es gab keine Regel bei ihren Besuchen. Aber alle freuten sich, wenn sie da waren.
Jane stützte den Kopf in die Hand und lümmelte über dem Tisch. So saß sie meistens da.
Sie sah Sophie zu, wie sie das Gemüse schnitt.
»Schau mich an«, sagte sie.
Sophie blickte auf.
»Hast du irgendwas gemacht? Mit deinem Aussehen?«
Sophie schüttelte den Kopf. »Nein, wieso?«
Jane musterte sie eindringlich. »Du siehst … unbeschwerter aus, fröhlicher.«
Sophie zuckte mit den Schultern.
»Ist etwas Besonderes passiert?«, fragte Jane.
»Ich weiß nicht.«
»Triffst du dich mit jemandem?«
Sophie schüttelte den Kopf.
Jane wandte den Blick nicht von ihr ab. »Sophie?«, flüsterte sie.
»Ja, vielleicht.«
»Vielleicht?«
Sophie sah sie an.
»Wer ist es?«, fragte Jane lachend.
»Ein Patient … Ein ehemaliger Patient«, sagte Sophie schüchtern. »Aber wir treffen uns nicht so.«
»Wie trefft ihr euch denn?«
Sophie lächelte. »Keine Ahnung …«
Sie gab das Gemüse in eine große Schüssel. Sie mochte es nicht, im Haus ihrer Mutter immer wieder zu dem tüchtigen Mädchen zu werden, das sie einmal gewesen war. Jane saß immer noch in der gleichen Pose da und schaute Sophie zu.
»Wir waren in Buenos Aires! Wir haben Jesus’ Geschwister besucht. Am Donnerstag sind wir zurückgekommen.«
Sie dachte kurz über den Wochentag nach, entschied dann aber, dass sie sich nicht vertan hatte. Jane war ein chaotischer Mensch. Sie unterhielten sich einen Moment lang über die Reise und Janes zukünftige Schwiegereltern, dann setzten sie sich mit den anderen an den Esstisch. Yvonne hatte wie immer den Tisch festlich gedeckt, dafür hatte sie ein Händchen. Small Talk, Gelächter und ab und zu schweigende Konzentration, damit die Gefühle unter Kontrolle blieben und kein altes Unrecht oder Missverständnis wieder hochkam.
Nach dem Essen setzten sich Sophie und Jane auf die Veranda. Unter einem Heizpilz tranken sie Wein und redeten stundenlang. Meistens drehte es sich um dasselbe Thema. Und auch heute sprachen sie über ihre neurotische Mutter. Mit dem Tod ihres Vaters hatte sich Yvonne von der lächelnden Hausfrau zur desillusionierten Egoistin gewandelt. Sophie und Jane durften zwar um ihren Vater trauern, aber der Hauptanteil der Trauer gehörte Yvonne. Ihre Stimmungsschwankungen waren heftig, mal war sie wütend und verzweifelt, dann wieder verlangte sie Verständnis und übertrieben viel Liebe von ihren Töchtern.
Irgendwann war Tom in Yvonnes Leben getreten. Sie zogen in sein Haus ein paar Straßen weiter, ein größeres Haus mit hohen Fenstern und großen Bildern an den Wänden. Dort gab es dicke weiße Daunendecken in breiten Betten aus Kirschbaumholz. Tom fuhr Jane und Sophie in seinem grünen Jaguar mit den hellbraunen Ledersitzen zur Schule. Yvonne blieb tagsüber daheim und malte. Sie fand aus ihrer Trauer heraus und wurde wieder so etwas wie eine Mutter.
Der Heizstrahler auf der Veranda und der Wein in ihren Adern wärmten sie. Sie teilten sich ein Päckchen Zigaretten, das sie im Gefrierfach gefunden hatten. Yvonne hatte ihre Gästezigaretten schon immer dort aufbewahrt, und sie hatten sie schon immer
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