Unbescholten: Thriller (German Edition)
nah sind sie dran an ihm, und was wollen sie mit dir?«
Sie sah ihn an.
»Ja. Aber wie soll ich das herausfinden? Soll ich mein Telefon auseinanderschrauben, in der Deckenlampe suchen? Macht man das so?«
Er nickte, trotz der Ironie in ihrer Frage. »Ja, genau so macht man das.«
Sie schwiegen. Nach einer Weile blickte er auf.
»Kannst du dir morgen freinehmen?«
»Ja.«
Er sah ihr die Angst an. Sie atmete tief ein, sah ihn noch einmal an, dann drehte sie sich um und ging Richtung Nybroplan davon.
Sie bewegte sich noch genauso wie früher. Er erinnerte sich jetzt wieder, erinnerte sich an seine verdrängten Gefühle. Wie sie sich damals kennengelernt hatten, in dem Sommer. Wie sie über alles geredet hatten, worüber man reden konnte. Wie sie sich betrunken und späte Abendessen auf der Veranda genossen und morgens immer lange geschlafen hatten. Wie er sich da zum ersten und letzten Mal in seinem Leben hatte vorstellen können, in ihrem gemeinsamen Garten den Rasen zu mähen, bis er aus Altersschwäche nicht mehr dazu in der Lage sein würde. Und wie dieses Gefühl ihn zu Tode erschreckt hatte. Wie es ihm gegen seinen eigenen Willen gelungen war, sie loszuwerden. Und dass er sich an kaum etwas aus der Zeit erinnern konnte, die darauf gefolgt war.
Jens nahm sein Handy, suchte eine Nummer aus dem Adressbuch und ließ es ein paarmal klingeln. Ein älterer Mann meldete sich.
»Hallo, Harry, erinnerst du dich noch an mich?«
»Na klar! Schön, mal wieder von dir zu hören.«
»Hast du morgen früh schon etwas vor?«
»Nichts, was sich nicht verschieben ließe.«
»Dann komm um sieben bei mir zu Hause zum Frühstück vorbei. Bring deine Ausrüstung mit und deine Handwerkerhose. Hast du den Firmenwagen noch?«
»Ja, es ist alles beim Alten.«
»Also, wir sehen uns morgen früh.«
Jens legte auf und sah über die Bucht, den Nybroviken.
Warum hatte er so leichtfertig eingewilligt, ihr zu helfen? Sie hatte eine Beziehung mit Hector Guzman, sie wurde von der Polizei abgehört und war eben erst Augenzeugin eines Mordversuchs gewesen. Hector hatte Feinde wie die Hankes im Nacken, sie schmuggelten Drogen, und wer wusste schon, was sie sonst noch taten. Hatte er Ja gesagt, weil das seine Welt war? Oder weil Sophie eben Sophie war? Normalerweise wäre er abgehauen, sobald er sie gesehen hätte. Er wäre Hals über Kopf geflohen, ohne richtig zu wissen, warum. Aber jetzt saß er da wie ein Idiot und bot ihr seine Hilfe an.
Jens verbarg das Gesicht in den Händen, meine Güte, war er müde! Er lehnte sich auf der Bank zurück. Früher war ihm das leichter gefallen, es war einfacher gewesen zu schießen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, und es war einfacher gewesen, auf alles zu pfeifen … Wahrscheinlich sagten deshalb die Leute immer, dass früher alles besser gewesen sei: weil sie auf ihre alten Tage nicht mit der Vergangenheit fertigwurden. Alles kam am Ende doch wieder hoch.
Das Handy in seiner Hosentasche vibrierte. Er atmete tief durch, um sich von dem Druck auf seiner Brust zu befreien.
»Ja?«
Er lauschte der dunklen Stimme am anderen Ende. Hector Guzman klang freundlich, als er fragte, ob Jens zu denen gehörte, die abends noch einen Kaffee tranken.
––––––––
Lars Vinge schoss etwa vierzig Bilder von Jens Vall, wie er auf der Bank am Wasser saß. Als Jens sich erhob, schaute er direkt in die Kamera. Lars bekam ein paar scharfe Großaufnahmen seines Gesichts. Er verließ seinen Platz, einen Hauseingang in der Skeppargatan, und ging zurück zum Parkhaus an der David Bagares Gatan, um Sophie den Weg abzuschneiden.
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Es war kurz vor elf und dämmrig. Jens ging durch die Einfahrt und dann die Treppe hinauf. An der Tür war ein Schild befestigt: Verlag Der andalusische Hund GmbH .
Kurz darauf saß er Hector in dessen Büro gegenüber. Ein Fenster stand offen. Es war ein warmer Abend, und von der Straße drangen Geräusche herauf.
Hectors Schreibtisch sah aus wie eine alte Werkbank, und er saß auf einem mit Leder bezogenen Bürostuhl aus den Fünfzigerjahren.
Hector schien über etwas nachzudenken.
»Bevor wir anfangen: Möchtest du irgendetwas? Du siehst müde aus«, fragte er.
»Du hast am Telefon von Kaffee gesprochen.«
Hector stand auf. Jens folgte ihm durch einen kleineren Besprechungsraum und eine eindrucksvolle Bibliothek. Hector breitete die Arme aus.
»Diese Titel sind alle in unserem Verlag erschienen. Es sind viele Übersetzungen aus dem
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