Und da kam Frau Kugelmann
es trotz der Helligkeit des Tages stockfinster um mich. Ich bin einsam. Wo ich auftauche, verstummen alle Gespräche. Man flüstert über mich, dreht mir den Rücken zu. Es ist lange her, dass jemand das Wort an mich richtete. Die eisige Sucht schirmt mich wie ein Panzer vom Rest der Welt ab. Sie treibt mich täglich mit eiserner Hand an, der bösen Macht in mir willig zu Diensten zu sein. Heute Nacht erlaube ich mir die allerhöchste Lust, die alles Dagewesene bei weitem übertrifft. Ein eiskaltes Bad in lauter schwimmenden Eisplatten, die ich in Mund und Ohren stopfe. Dann tauche ich so lange unter Wasser, bis die Schwerkraft mich nach unten zieht und mich vom Weiterleben für alle Zeit entbindet.
Der Portier ruft an, eine Dame habe vergeblich bei mir angeklopft, ob ich zu sprechen sei? Ich will nicht gestört werden, sage ich ihm, ich will niemanden sehen. Selbst wenn meine falsche Namensträgerin jetzt zu mir käme und mir mein Zimmer zurückgäbe, ich nähme es nicht an. Ich brauche es nicht mehr. Ich vermache ihr sogar den Glückskoffer und das Fischbesteck. Freilich wird sie beim ersten Biss von meiner Fischgabel an einer kleinen scharfen Gräte ersticken, wenn sie nicht schon vorher mit dem Koffer auf der Straße tödlich verunglückt ist.
Es klopft an meine Tür, jemand bewegt den Türgriff. Womöglich ist es eine verkleidete Sanitäterin, die Koby in Sorge um mich gerufen hat, die mir eine Beruhigungsspritze geben will, nahkampferprobt und nur auf den günstigen Moment wartend, um mich zu überwältigen, oder es ist eine Fürsorgerin vom Sozialamt, eine ehemalige Amerikanerin mit messianischem Eifer, die mich in eine geschlossene Anstalt einweisen will. Oder es ist ebenfalls eine Liebhaberin der Kälte, und sie hat von DaudDavid einen Nachschlüssel zum Gefrierschrank erhalten. Am Abend wird sie mich womöglich wie ein Schatten in der Nacht zur Hotelküche verfolgen. Sie will sich mit mir absprechen, wer wann was zu sich nimmt und was wir gemeinsam verspeisen werden. Nicht auszudenken, dass sie ab jetzt an meinen Fersen klebt und ich sie nicht mehr loswerde.
Es klopft jetzt lauter, und als ich nicht antwortete, beginnt Frau Kugelmann meinen Namen zu rufen. Ich erkenne sie an ihrer Stimme.
»Ich habe heute keine Zeit«, rufe ich durch die Tür.
»Lassen Sie mich rein, denken Sie an meine Stadt.«
Ich antworte nicht mehr. Wozu noch sprechen. Sie klopft nochmals, stärker, und dann beginnt sie, vor der Tür zu erzählen. Erzählt von den Armen in Bendzin, die zum Feldscher gingen, das war einer der ihren, der ihnen die schmerzenden Zähne zog und die eiternden Wunden säuberte und den Hals mit ätzender Flüssigkeit auspinselte. Und von Dr. Goldstaub, dem Arzt, der die Armen bei schweren Krankheiten kurierte und von ihnen wegen des verflixten Bendziner Gefühls kein Geld verlangen konnte.
Ich bin inzwischen mit einem Ohr ganz nahe am Schlüsselloch, lausche angespannt, und als die Stimme leiser wird, öffne ich die Tür, um besser zu hören. Erzählend schiebt sich Frau Kugelmann durch den größer werdenden Spalt an mir vorbei ins Zimmer. Sie sieht mich nicht an, stellt ihre Wasserflasche auf den Tisch, setzt sich auf den Stuhl, zieht die Schuhe mit den Riemchen aus, streicht sich über das Kinn und den Hals, sucht die Stelle, an der sich einst der dickste Teil ihrer Zöpfe befand, und bewegt ihre Hände. Ich lasse ihre Geschichten in mich eindringen, sie erwärmen mich von innen. Ich lege mich vollständig bekleidet aufs Bett, Sandalen an den Füßen, Handtasche in der Hand, jederzeit bereit davonzulaufen, falls ich mich zu sehr in ihnen verliere.
Dr. Goldstaub
»Dr. Goldstaub war an unserer Schule als Armenarzt bekannt, aber er behandelte eine große Anzahl reicher Bendziner Kinder, darunter auch viele Fürstenberg-Schüler. Ich war über fünf Ecken mit ihm verwandt. Als er mich einmal impfte, sagte er, er wolle mir ein kleines B, also den Anfangsbuchstaben meines Namens, in den Oberarm einritzen, nur um mir die Angst vor der großen furchterregenden Spritze zu nehmen. Wir Kinder liebten ihn.
Dr. Goldstaub kurierte auch mal den Keitusch, das Hündchen von der Marysia Teitelbaum, als es sich wegen der vielen Süßigkeiten, die es gefressen hatte, übergab. Er behandelte Reiche und Arme, nur von den Armen nahm er kein Geld, er konnte es nicht. Wenn er die große Armut sah, konnte er kein Geld für die Behandlung verlangen. Es war keine Wohltätigkeit, es war dieses Mitgefühl, das aus der Seele
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