Und da kam Frau Kugelmann
wenn sie auf einem der bequemen Sessel sitzt und von Bendzin erzählt.
Das Anziehen und Zähneputzen haben wir gleich am ersten Tag aufgegeben. Von uns unbemerkt verrinnen hinter den zugezogenen Gardinen die Stunden. Noch nicht einmal den erfrischenden kühlen Morgenwind bemerken wir, mit dem die Nacht sich kurz vor Sonnenaufgang verabschiedet. Koby versorgt Frau Kugelmann mit warmen Mahlzeiten aus dem Restaurant. Mir bringt er Eis von der Bude am Strand. Immer um dieselbe Zeit stürmt er zu uns ins Zimmer. Mit ihm kommt ein Luftzug von draußen herein, er bringt uns das helle, mediterrane Licht des Tages. Man sieht es ihm an, dass er die Gardinen aufreißen will, er will die Geräusche der Straße hereinlassen, den Gestank, die feuchte Luft. Am liebsten würde er die Gedanken verscheuchen, die alten Geschichten vertreiben, herauslocken an den Strand, in die schläfrige lähmende Glut der Mittagshitze.
Koby stellt das Tablett ab, packt aus, deckt Servietten und Besteck für uns auf. Wenn er fertig ist, bittet er zu Tisch. Er wartet, bis ich aufgestanden bin. Vielleicht will er prüfen, ob ich die gleichen Symptome zeige wie der Schweizer, wahrscheinlich muss er dem Portier täglich einen mündlichen Rapport über meinen Gemütszustand abgeben.
»Wie lange soll das noch weitergehen?«, fragt er mich vorwurfsvoll, leise.
»Bis ich alles gehört habe«, antworte ich ihm barsch.
Ich bitte Frau Kugelmann, auch während des Essens mit dem Erzählen fortzufahren. Ich rühre das Eis nicht an, halte nur noch mit einer Hand ganz leicht den eiskalten Becher fest. Ich lasse mich füttern mit Geschichten aus ihrer Stadt. Wie ein Säugling nehme ich die warme Milch der Geschichten in mich auf, gedeihe, reife von Neuem in wenigen Stunden heran. Aus dem Bauch der Mutter bin ich blind zur Welt gekommen, umnachtet, als hätte ich meine Augen im feuchten dunklen Geburtskanal verloren. Erst jetzt erlerne ich das Sehen. Ich fühle Wärme in mir aufsteigen, als wachse ein sonnendurchfluteter Baum in mir, ein Baum des Wissens, der Erfahrung, die Wurzeln verwachsen mit meinen Beinen, am Stamm bilden sich Äste, reichen bis in meine Schultern hinein, Blüten treiben in meinen Armen aus, berühren meine Fingerspitzen.
Dankbar sitze ich Frau Kugelmann zu Füßen. Ich will eins sein mit ihr, eintauchen in das Silberbad ihrer Erinnerungen. Kleine Kostbarkeiten, Edelsteine, funkelnde Smaragde lösen sich von ihrer Zunge, fallen auf mich herab. Wir vergolden die Dächer ihrer Stadt, verlegen weißen Marmor in den Straßen, bauen eine Kristallkugel über Bendzin. Ich beneide sie um ihren wissenden, bebilderten Kopf. Ich will dieselbe Luft atmen wie sie, essen, was sie in den Mund nimmt, den Rhythmus ihrer kleinen Verschnaufpausen einhalten, ihre Lieblingsspeisen vorkosten, die feinsten Häppchen nur für uns beide auswählen. Gemeinsam mit Frau Kugelmann finde ich allmählich wieder Geschmack an warmen, heißen, knusprig braunen, scharf angebratenen Speisen, genieße sogar kleine, unschuldige, feurig gewürzte Fische mit ihr, aufgespießt, über glühend heißen Kohlen gebacken. Vorsichtig mit der Zunge tastend, dann immer kräftiger kauend, schiebe ich alles Essbare in meinen Mund. Schließlich bestelle ich bei Koby eine doppelte Portion, vergreife mich lustvoll an Frau Kugelmanns Teller. Wortlos schiebt sie alle Schüsseln und Schälchen zu mir hin.
Ich blühe auf wie ein junger Eukalyptusbaum, der das Wasser der Erde aufsaugt. Frau Kugelmann schrumpft, sie verdorrt neben mir, ihre Haut wird gelb und durchsichtig wie altes brüchiges Pergamentpapier. Ihre Pausen werden länger, die Kehle trocken, ab und zu versagt ihre Stimme. Als sie am dritten Tag unruhig wird und für einen Nachmittag zum Ausruhen nach Hause will, verstelle ich ihr den Weg zur Tür. Sie darf nicht aufhören zu erzählen. Ich bewache sie und lasse sie nicht mehr aus dem Zimmer. Die Leidenschaft, die sie in mir geweckt hat, verleiht mir ungeahnte Kräfte.
Ich bestelle beim Room-Service ein vollständiges Menü. Die Abfolge der Speisen bringe ich noch ein wenig durcheinander und fange mit dem Nachtisch an. Frau Kugelmann wendet sich mit Abscheu von mir ab, rührt keinen Bissen an.
»Frau Kugelmann, erzählen Sie!«, herrsche ich sie an.
Sie gehorcht, setzt sich übermüdet auf den Stuhl, bringt aber keinen Ton hervor.
Als Koby uns am Ende des dritten Tages das Abendessen bringt, blickt er Frau Kugelmann besorgt an. Sie liegt erschöpft auf dem Sofa, während ich den
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