Und da kam Frau Kugelmann
gelegt. Mein Vater und der Mann, der hinter ihm im Verborgenen blieb, zeugten mich in einem Moment der aberwitzigen Hoffnung, mit der Wucht meiner Geburt dem Tod ein neues Leben abzutrotzen. Mehr noch, der Säugling, der stolz im Kinderwagen herumgezeigt wurde, sollte die verlorene Familie ersetzen, den Vater, die Mutter, die Schwestern und Brüder. Ich, das winzige Bündel Mensch, sollte die zerrissene Lebenskette der Generationen flicken. Wütend zerschlug ich die in mich gesetzten Hoffnungen. Ich bin ledig und kinderlos. Die von den Eltern ersehnte Wiederkehr der natürlich gewachsenen Generationen endet vorzeitig mit mir: Es hat bislang keine Nachkommen mit dem Namen Silberberg gegeben.
Eiszapfen, so groß wie Bleistifte, bohren ihre harten Spitzen in meine Haut, pumpen schmerzlindernde Tropfen in meinen Blutkreislauf, stromaufwärts fließt die kühle heilende Nahrung in meinen dumpfen ermatteten Kopf. Mein Mund bewegt sich, Laute entstehen in meinem Gaumen und auf meiner Zunge. Sätze wachsen zusammen aus sprungbereiten Worten, die, in den staubbedeckten Ecken meiner Gehirnkammern übereinander gelagert, schon Jahrzehnte auf ihren Einsatz warten. Abgekapselte, unbeseelte Worte, mit einem Beiwort versehen, die sich jetzt zitternd aus meinen sprachgewohnten Lippen schälen. Wenn Gonna dein Vater ist, höre ich mich sagen, dann ist die tatkräftige Bluma deine Großmutter, Pinje dein Großvater, Mendel mit dem schwarzen Fleck dein Großonkel. Trau dich, spreche ich mir Mut zu, sprich es aus, wiederhole es unablässig, immer wieder von Neuem, bis du es glaubst. Treibe dir alle Zweifel aus. Sprich mir nach: Gonnas Familie gehört zu dir, Meir Elisier, der Schnapsverkäufer, ist dein Urgroßvater. Die Bendziner gehören zu mir, die Kollontaja und die Malachowskiego sind meine Hauptstraßen. Freude steigt in mir auf, wilde, unbezähmbare Freude. Das Zimmer tanzt aus Freude mit mir. Ich schieße in die Höhe, in die Breite, komme mit meinen Riesenbeinen in dem klein gewordenen Hotelzimmer nur noch auf Knien vorwärts, stütze mich an der Zimmerdecke mit den Händen ab. Ich habe sie wiedergefunden, meine verschwundenen Verwandten. Sie sind lebendig geworden, die Toten aus der Stadt meines Vaters!
Ich platze vor Neugierde, ich will alles über meine Verwandten wissen: wie sie aussahen, wie sie sich kleideten, wie sie lebten. Ich nehme Gonna als meinen neuen Vater an. Er bringt mir als Morgengabe das kostbare Geschenk einer ganzen Stadt. Auch ein Bruchteil der Wahrscheinlichkeit einer Vaterschaft genügt mir. Sogar ein Zehntel von einem Tausendstel erkenne ich an. Gonna ist mein neuer Vater.
Voller Freude habe ich am Nachmittag beim Spaziergang am Promenadenufer den Strand der Frommen entdeckt. Ich beobachte wohlwollend die herannahenden orthodox gekleideten Badegäste. Sie baden an einem eigens für sie geschaffenen Strand, hinter einer mannshohen schlichten weißen Mauer, die in einen Bretterverschlag übergeht, der tief ins Meer ragt. Frauen und Männer an gesonderten Badetagen streng voneinander abgetrennt. Neugierig laufe ich hin und her, bis ich endlich einen eingeritzten Spalt im Bretterverschlag finde. Nur wer sich weit ins Meer hinauswagt, kann ungestört einen Blick in das Innere des eingemauerten Badestrands werfen, muss allerdings die Untiefen des Meeres an dieser Stelle in Kauf nehmen. Heute ist Frauenbadetag. Der Bademeister ist der einzige Mann, der die Frauen in ihren Badeanzügen sehen darf, als sei er ein Neutrum, wie ein Arzt. Braucht einer bloß Bademeister werden, um sich die frommen Frauen anzusehen. Wenn ich doch nur den Schneid hätte, mich einer Gruppe junger Mädchen anzuschließen, die gerade mit bodenlangen Röcken den Strand betritt. Ich traue mich nicht, weil ich fürchte, dass sie mich sofort als Säkuläre identifizieren und mich durch ihre missbilligenden Blicke vertreiben würden.
Als Frau Kugelmann ein paar Stunden später sichtlich erholt vor der Tür steht, bin ich gerade dabei, einen Stammbaum mit meinen neuen Verwandten anzufertigen. Schnell lasse ich das Papier verschwinden.
»Bitte verzeihen Sie mein gestriges Benehmen.« Ich schäme mich zutiefst vor ihr.
»Bendzin ist wichtiger«, sagt sie nachsichtig und seufzt.
Erleichtert berichte ich von meiner Entdeckung am Nachmittag, dem Strand der Frommen.
Frau Kugelmann nickt beiläufig, blickt suchend zum Tisch, den ich gestern mit dem Fischbesteck eingedeckt hatte. Den Besteckkasten habe ich vorsorglich unter dem Bett
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