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Und da kam Frau Kugelmann

Und da kam Frau Kugelmann

Titel: Und da kam Frau Kugelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minka Pradelski
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mussten ihn stützen. Die erste Nacht haben wir mit Gonna bei Halina verbracht. Es war Freitagabend. Wir aßen in dieser Nacht unsere erste Mahlzeit im ersehnten Land, einen weißen Mittelmeerfisch mit dem Silberbesteck aus unserer verlorenen polnischen Stadt. Halina schenkte jedem von uns zur Erinnerung an Bendzin eine Fischgabel. Wie dankbar wir waren. Ein erstes Geschenk nach so vielen schrecklichen Jahren, wir sahen darin ein gutes Omen für eine menschenwürdigere Zukunft. Am nächsten Morgen war Gonna verschwunden. Noch nicht einmal verabschiedet hat er sich. Er fuhr mit dem menschenleeren Flüchtlings schiff nach Europa zurück.«
    »Ist er wiedergekommen?«
    »Nein, wir haben von Gonna nichts mehr gehört.«
    »Habt ihr nochmals versucht, Kontakt aufzunehmen?«
    »Nein, Gonna hatte sich verändert. Er marterte sich bei dem Gedanken, dass er damals bei seiner Auswanderung seine Familie im Stich gelassen hatte. Er überlebte im schützenden Palästina, während seine Familie dem sicheren Tod ausgeliefert war. Es gab in diesen Zeiten keinen Geretteten, von dem man sagen könnte, dass er zu den Glücklichen gehörte.«
    Voller Unruhe stehe ich auf. »Frau Kugelmann, Sie müssen jetzt bitte gehen«, sage ich schließlich, öffne die Tür und schiebe sie unsanft hinaus.
    Mit klopfendem Herzen reiße ich den Besteckkasten auf, zähle nach. Es fehlen drei Fischmesser und vier Fischgabeln von dem zwölfteiligen Besteck. Wenn es tatsächlich stimmt, dass Halina vier Gabeln verschenkte – sind die fehlenden vier Gabeln der Beweis, dass ich Gonnas Tochter bin? Oder bin ich gar die Tochter eines anderen, des glücklichen Besitzers der drei verschwundenen Fischmesser aus Halinas Besteckkasten? Wessen Tochter bin ich? Ich will keinen anderen Vater. Ich bin an meinen schweigsamen Vater gewöhnt. Gonna soll mein Vater sein? Unfug. Vater hatte mit dem Schüler Gonna nichts gemein, ja, sie sind einander geradezu wesensfremd. Vater war ein nüchterner Geschäftsmann, den Zahlen und Gewinne interessierten, Gonna ein passionierter Leser, der stets ein Buch zur Hand hatte. Ich habe Vater nie ein Buch lesen sehen. Der schlaue Gonna hatte einen scharfen Verstand, Vater war eher schwerfällig, zögerte lange, ehe er eine Entscheidung traf. Gonna galt als der schnellste Leser in Bendzin, Vater las seine Tageszeitung mit Bedacht. Keinesfalls kann eine Persönlichkeit ihre Eigenschaften so verändern! Andererseits hatte Gonna, ebenso wie Vater, eine Schwester namens Halina, die wiederum ein Fischbesteck mit gleicher Gravur besaß. Noch dazu war er der Enkelsohn eines Silberberg, der aus Kalisz stammte. Alles nur ein Zufall? Wenn Vater nun doch den Namen seines Großvaters angenommen hat? Bin ich im Lügengebäude eines Mannes aufgewachsen, der in die Haut eines anderen schlüpfte? Wer bin ich wirklich? Wie heiße ich? Soll ich Vaters abgelegten Namen annehmen und meinen Namen, mit dem ich groß geworden bin, annullieren? Bin ich das Kind meiner Eltern? Ich werde mir fremd, erkenne mich kaum mehr. In meiner Kehle bildet sich ein Kloß, an dem ich bald ersticken werde. Wenn der Kloß weiter wächst, wird er meine Atmung lähmen, meine Hände und Beine sterben als Erstes ab und dann mein ganzer Körper. Der Kloß wird mich töten. Ich muss der aufkommenden Panik Herr werden. Ich brauche Eis, viel Eis, klingele nach DaudDavid in der Küche, er meldet sich nicht.
    In höchster Atemnot zwinge ich meinen Kopf in den kleinen Hotelkühlschrank und lutsche das Eiswasser ab, das sich spärlich auf den winzigen, gekühlten Fläschchen bildet. Ich komme wieder zu mir und denke nach. Wenn Gonna mein Vater wäre, dann müsste einer der vielen Durchreisenden am Tisch der Eltern ihn doch erkannt und bei seinem Namen gerufen haben. Hat Gonna alles bestritten? Oder gab es dieses stillschweigende Einverständnis, das all diejenigen verbindet, die mit den Toten in einem Zwischenreich leben, von dem wir, die Nachgeborenen, ausgeschlossen sind?
    Wäre ich damals in Polen zur Welt gekommen, hätte ich zu meiner Hochzeit keine Freunde einladen können, weil meine eigenen Verwandten den großen Hochzeitssaal bis auf den letzten Platz gefüllt hätten. Stattdessen bin ich in einer Nacktheit zur Welt gekommen, für die es keine Bekleidung gibt, ich gehöre zur unsichtbaren Gemeinschaft der kahlen Kinder, die ohne Vergangenheit, verstreut über den ganzen Erdball, aufgewachsen sind.
    Die Freiheit, ein eigenständiges Leben zu führen, wurde mir nicht in die Wiege

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