Und da kam Frau Kugelmann
so dass kein Quäntchen Luft mehr durch den Stoff drang. Die kleine Mirele ist zu den Eltern ins Geschäft gerannt, sie lief so schnell, dass sie gar nicht spürte, wie ihre Beinchen sie trugen. Die Eltern sind in rasendem Tempo nach Hause zurück, in der Hoffnung, dem Sohn das Leben zu erhalten. Großvater Welwel war längst nicht mehr anzutreffen, er war in die Wohnung des Alexander Rebben gelaufen, um nach Rat zu fragen. An der Tür wurde er vom Schammes empfangen, der Rebbe selbst ließ sich nicht blicken. Nach Rücksprache mit dem Rebben sagte der Gehilfe ihm, der Rebbe habe in den großen Himmel geschaut und den kleinen Schloime im schönen Gewand und mit frisch gekämmtem Haar, lieblich anzusehen und ohne irgendein Krankheitszeichen, oben bei den Engeln spielen gesehen, und von dort oben kehre niemand mehr zurück. Welwel solle nach Hause gehen, er werde später den Diener schicken und eine tröstliche Antwort geben.
Der Schammes kam am nächsten Morgen nach der Beerdigung ins Trauerhaus und tröstete die verzweifelten Eltern. Sie würden, so ließ der Rebbe ausrichten, in einem Jahr einem Sohn das Leben schenken. Den neugeborenen Sohn sollten sie nach dem Rebben benennen, und dieser Sohn würde später ebenso wie er ein gelehrter Mann, ein Rabbi, werden.«
»Und, haben sie einen zweiten Sohn bekommen?«, frage ich.
»Jossel kam neun Monate nach der Weissagung des Rabbis zur Welt.«
»Ist er tatsächlich ein Rabbi geworden?«
»Nein, da hat das Wunder der Alexander aufgehört«, sagt Frau Kugelmann lachend, »der Junge war in der Tat begabt und hätte ein Rabbi werden können, aber ihm stand der Sinn nicht danach. Er wollte unbedingt auf unsere freie Schule. Mendel mit dem schwarzen Fleck verprügelte ihn mit einer Stuhllehne, um ihn zur Besinnung zu bringen, und Welwel grämte sich so sehr, dass Mendel um sein schwaches Herz fürchtete.
›Du wirst deinen Großvater mit deinem Ungehorsam noch frühzeitig ins Grab bringen‹, schrie er seinen Sohn an.
Aber Jossel blieb stur und ließ nicht ab.«
Jossel
»Jossel«, sagt Frau Kugelmann und nickt langsam, »hatte schon als Junge das Gesicht eines Erwachsenen. Er sah aus, als habe er seine eigene Kindheit übersprungen, denn lange vor seiner Bar Mitzwa war er zu einem derben kräftigen Jüngling herangereift, mit scharf ausgeprägten Gesichtszügen und einem dunklen Schatten auf Oberlippe und Wangen. Im Gegensatz zu seinen pummeligen Geschwistern war er sehnig und stark.
Jossel besuchte die fromme Schule des Gerer Rebben. Dort lernte er vormittags, wenn man noch ausgeschlafen und frisch war, die heiligen, religiösen Fächer und nachmittags, wenn schon die erste Müdigkeit auftrat, die unheiligen, das heißt Schreiben und Lesen in polnischer Sprache. Um sechs Uhr abends war der Unterricht beendet. Wer am Ende des Schuljahres nicht dreihundert Seiten auswendig wusste, der wurde nicht versetzt. Mit vierzehn war die Schule beendet, und nur die begabten Schüler gingen von dort aus nach Lublin oder Warschau an die großen Thoraschulen, um Rabbiner zu werden. Mendel mit dem schwarzen Fleck hörte in der Betstube, dass der Sohn vom Vorbeter in Lublin, anstatt zu lernen, sich die Zeit beim Kartenspiel vertrieb. Solche Sorgen wollte sich Mendel ersparen. Schluss mit dem Lernen entschied er, ab jetzt sollte Jossel das Tischlerhandwerk erlernen und ihm in der Werkstätte zur Hand gehen.
Aber der Sohn war besessen von dem Wunsch zu lernen. Wenn das Studium der heiligen Fächer vom Vater verboten war, dann wollte er die unheiligen Fächer erlernen, einen Beruf haben für das spätere Leben, um der großen Armut zu entgehen. Er vertraute sich seinem alten Lehrer Langfuß an, der in der Schule die polnischen Fächer unterrichtete. Langfuß bestärkte Jossel darin, gegen das Gebot des Vaters anzukämpfen und das Lernen nicht aufzugeben.
Es gab noch zwei weitere wissensdurstige fromme Söhne, Nussan und Arie hießen sie, die der Langfuß in den unheiligen Fächern unterrichtete. Auch sie träumten davon, unsere Schule zu besuchen. Der Langfuß handelte mit unserer Schule aus, dass den dreien das Schulgeld erlassen würde, die Schule für die teure Uniform aufkäme und die Kosten für alle Schulbücher übernähme. Am Freitag vor Schulschluss rief der Langfuß seine Zöglinge zu sich und berichtete von seinen erfolgreichen Verhandlungen. Dem Besuch des Fürstenberg-Gymnasiums stünde nun nichts mehr im Wege, verkündete er mit feierlicher Stimme, die Väter bräuchten
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