Und dann der Himmel
kapitalistischen Gesellschaftsordnung auseinander zu setzen.
„Neben dem Weihnachtsmann gab es auch eine Frau Weihnachtsmann zu kaufen“, sagt er erstaunt und lenkt den Wagen auf die Autobahn zurück. „‚Mrs. Santa Claus‘. Sie war allerdings deutlich jünger als ihr angeblicher Ehemann und hatte erheblich weniger Kleidung an. Und sie war fünfzig Cent billiger.“
Ich zucke verständnislos mit den Schultern. „Na und?“
Rafael wirft mir einen entrüsteten Blick zu. „Was soll das heißen, ‚na und‘?“ regt er sich auf. „Es gibt keine Frau Weihnachtsmann! Das ist Blasphemie. Ich meine, wo wird das enden? Bekommt er nächstes Jahr eine Tochter und einen Hund? Oder eine Geliebte?“
„Hättest du es lieber gehabt, wie Weihnachten in der DDR gehandhabt worden ist? Da gab es offiziell nicht mal Engel, sondern nur ‚geflügelte Jahresendfiguren‘. Außerdem ist es doch völlig egal, ob er Familie hat oder nicht. Schließlich gibt es ja in Wirklichkeit auch keinen Weihnachtsmann“, sage ich, während ich die Silberfolie abreiße und meinen Nikolaus mit einem zufriedenen Biss köpfe. „Er ist eine Erfindung der Süßwarenindustrie, um ein neues Produkt besser zu vermarkten“, füge ich noch schmatzend hinzu.
Erst in diesem Moment fällt mir ein, dass hinten ein Kind sitzt, das mich noch gestern Morgen mit dem Weihnachtsmann verwechselt hat und dessen Nerven zurzeit an einem seidenen Faden hängen. Ich halte mir erschrocken die Hand vor den Mund, aber es ist zu spät. Simon hat mitgehört und fängt erneut an zu heulen. Diesmal klingt er wie eine Sirene, die einen Fliegeralarm meldet.
„Super“, sagt Sabine verärgert, „du bist ein Idiot, Marco.“ Sie wuschelt ihrem Sohn durch die Haare, aber mein Neffe ist jetzt endgültig am Boden zerstört. Annika, die noch viel zu klein ist, um zu verstehen, worum es eigentlich geht, plärrt aus Sympathie ebenfalls los und meine Mutter bemerkt trocken: „Vielleicht wäre es besser gewesen, ein paar neutral aussehende Schokoriegel zu kaufen“, und hält sich die Ohren zu.
Rafael versucht, die Emotionen zu beruhigen. „Marco liegt wie immer völlig falsch“, sagt er aufmunternd zu Simon. „Natürlich gibt es den Weihnachtsmann. Der Nikolaus existiert ja auch. Ich muss es wissen, ich bin schließlich ein Engel. Erst vor zwei Wochen habe ich die beiden noch getroffen, auf der innerbetrieblichen Weihnachtsfeier.“
„Ihr … ihr habt eine Weihnachtsfeier?“ fragt Sabine wider besseres Wissen nach. Meine warnenden Blicke ignoriert sie.
„Ja, natürlich. Mit allem Drum und Dran: ein paar Hymnen singen, Ansprache des Chefs und dann kaltes Buffet. Wir wichteln sogar!“ erklärt Rafael stolz und verliert sich erneut in Details, die niemand hören will und keiner glauben kann. „Ihr wisst schon, dieses Spiel, wo jeder einen Zettel zieht und demjenigen ein Geschenk besorgen muss, dessen Name auf dem Papier steht. Letztes Jahr hatte ich irgendeine unbedeutende Schutzheilige aus der zweiten Reihe, von der ich nicht mal wusste, für wen sie eigentlich zuständig ist, aber dieses Jahr hatte ich Mutter Teresa gezogen. Sie ist ja ein ziemlicher Neuzugang bei uns und hat sich noch nicht ganz eingewöhnt“, teilt er uns augenzwinkernd in diesem verschwörerischen Unterton mit, als erzählte er uns Firmeninterna eines Großkonzerns. „Ständig ist sie auf der Suche nach Armen und Kranken, denen sie beistehen kann – als ob es im Himmel so etwas gäbe. Jedenfalls hab ich ihr ein Medaillon mit einem Bild des Papstes geschenkt. Sie war ganz gerührt.“
Ich rolle verzweifelt die Augen und denke darüber nach, wie gerne ich jetzt alleine wäre, bis mich ein weiterer Gähnanfall sogar vom Denken abhält. Mein Gehirn fühlt sich an wie eine riesige Luftblase, schwerelos und völlig leer.
Eine Stunde später setzt Rafael den Blinker und fährt von der Autobahn ab. Die Kinder haben sich inzwischen beruhigt und schlafen erschöpft. Ich bin unglaublich neidisch und ständig versucht, ebenfalls einzunicken.
„Gleich sind wir da“, informiert mich der Engel.
„Und wo genau sind wir dann?“ frage ich, gegen meinen Willen ein wenig neugierig geworden.
„In Freiburg.“
„Freiburg? Aber ich war noch nie in meinem Leben in Freiburg“, erkläre ich verblüfft. „Was machen wir da?“
„Es gibt dort jemanden, den du kennst und den wir besuchen wollen“, erwidert Rafael. Diese spärliche Information ist alles, was ich aus ihm herausholen kann, danach konzentriert
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