Und dann der Himmel
wollte.“
„Du … du gehst zurück?“ stammele ich.
„Ja“, erwidert meine Mutter, „natürlich.“
Leider habe ich keine Zeit, weiter mit ihr zu sprechen, geschweige denn, über diese überraschende Wendung nachzudenken. Unser Gespräch wird unterbrochen, als Sabine mit Annika auf dem Arm und Simon im Schlepptau von den Toilettenhäuschen zurückkommt. Mein Neffe hat einen klatschnassen Schritt, ein feuchtes T-Shirt und heult Rotz und Wasser, während meine Schwester ihn hinter sich herzerrt und ausgesprochen wütend aussieht.
„Was ist passiert?“ frage ich. Nach Simons Gemütszustand zu urteilen, muss sich ein größeres Drama abgespielt haben.
„Kinder!“ regt sich Sabine auf. „Sie großzuziehen ist eine echte Plage, aber erschießen darfst du sie auch nicht!“
Meine Mutter bricht in wissendes Gelächter aus.
Dann erklärt meine Schwester, dass Simon aus heiterem Himmel darauf bestanden habe, „wie alle anderen Männer“ in ein Pissbecken zu pinkeln, anstatt sich wie sonst auf eine Toilette zu setzen. Sabine, die sich aus nachvollziehbaren Gründen als Anstandsdame auf einer Herrentoilette sichtlich unwohl fühlt und diesen Job bisher immer ihrem Mann überlassen hat, hat dem störrischen Drängen Simons zögernd nachgegeben, in der Annahme, es handele sich um eine verständliche, wenn auch etwas skurrile Reaktion ihres Sohnes auf die Tatsache, dass er jetzt keinen Vater mehr hat und nun so schnell wie möglich erwachsen werden möchte. Allerdings haben sowohl mein Neffe als auch meine Schwester nicht bedacht, dass Pissbecken meist in einer Höhe von ungefähr achtzig Zentimetern angebracht sind, die zwar für erwachsene Männer bequem zu erreichen ist, aber nicht für Fünfjährige, deren Zielvermögen weit unterhalb dieser Höhe liegt. Das Ergebnis dieser Nachlässigkeit bestand darin, dass Simon etwas ratlos vor dem Pissbecken stehend weit nach oben zielen musste, um wenigstens in die Nähe des Urinals zu gelangen, und dabei weniger die Keramik als sein T-Shirt und seine Hose traf. Als meiner Schwester daraufhin die Hand ausrutschte, war das sowieso schon angeknackste männliche Selbstbewusstsein meines Neffen vollends im Eimer. Wer lässt sich schon gerne öffentlich auf einer Herrentoilette demütigen, indem er von seiner Mutter eine gescheuert bekommt?
Simon scheint wirklich untröstlich zu sein, denn während Sabine sich langsam abregt, schießen ihm noch immer die Tränen aus den Augen. Eine solche Schmach kann tiefe Spuren in der Psyche eines jungen Mannes hinterlassen. Wahrscheinlich wird er für den Rest seines Lebens freiwillig ein Sitzpinkler. Seine Laune bessert sich auch nicht, als ich ihm sage, dass ich ebenfalls gerade von meiner Mutter geohrfeigt worden bin. Eigentlich wollte ich ihm mit dieser Information klarmachen, dass er nicht der Einzige ist, der ungerecht behandelt wird, nach dem Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid, aber Simon scheint es eher so zu verstehen, dass die Erniedrigungen nicht einmal dann aufhören, wenn er groß ist, und erhöht die Lautstärke seiner Heulerei um das Doppelte. Sein Schluchzen hört sich an, als bekäme er ohne Betäubung einen Finger amputiert. Erst als Rafael mit dem vollgetankten Auto vorfährt und jedem von uns einen kleinen Schokoladenweihnachtsmann in die Hand drückt, beruhigt er sich etwas.
„Eine kleine Vorfreude auf Heiligabend!“ erklärt Rafael mit Blick auf die Weihnachtsmänner und strahlt über das ganze Gesicht.
Ich starre das bunt verpackte, dämlich grinsende Stück Schokolade an und mir wird plötzlich bewusst, dass Weihnachten nur noch einen Tag entfernt ist. Im Trubel der jüngsten Ereignisse sind die Gedanken an die bevorstehenden Feiertage völlig untergegangen. Ich weiß noch nicht einmal, wo ich Heiligabend überhaupt verbringen werde. Während andere Leute damit beschäftigt sind, letzte Geschenke zu besorgen, den Tannenbaum zu schmücken und die Zutaten für ein leckeres Essen zu kaufen, stehe ich auf dem Parkplatz einer verlassenen Raststätte hunderte Kilometer von meinem Zuhause entfernt und muss mir Gedanken um das seelische Gleichgewicht meines vollgepinkelten Neffen machen. Rafaels Erscheinen hat alles durcheinander gebracht.
„Danke … denke ich jedenfalls“, bringe ich gequält hervor, während wir alle wieder ins Auto steigen und Sabine trockene Klamotten für ihren Sohn aus dem Koffer fischt. Aber Rafael bemerkt meinen Missmut nicht. Er ist damit beschäftigt, sich mit den Auswüchsen der
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