Und dann der Himmel
heruntergekommenen Rasthof zu Mittag. Ich zerre die Dogge zum Wagen zurück und sperre sie ein. Der Hund hat bei der Kälte sowieso keine Lust, im Freien herumzutollen. Ich dagegen bleibe draußen und vertrete mir die Beine, wer weiß, wie lange wir heute noch in dem Auto sitzen müssen. Ich blase auf meine Fäuste und hüpfe von einem Fuß auf den anderen. Dabei versuche ich, den Blicken meiner Mutter auszuweichen, die neben mir steht und mich stoisch beobachtet. Ich bin noch immer sauer, dass sie ihr altes Leben hinter sich gelassen hat, noch dazu so leichtfertig und ohne ein Wort des Bedauerns.
„Du missbilligst meine Entscheidung“, stellt sie plötzlich fest.
Ich höre auf herumzuturnen. „Ja“, sage ich. In meiner Jackentasche suche ich nach einer Zigarette. „Ich finde, dass du leichtfertig gehandelt hast.“
„Im Gegenteil“, sagt meine Mutter ernst. „Es ist alles gut durchdacht.“
„Das bezweifele ich auch nicht“, erwidere ich und paffe hastig an dem Glimmstängel. „Es sah fast so aus, als hättest du nur auf eine passende Gelegenheit gewartet, um den Absprung zu wagen!“
Versehentlich scheine ich mit meinen Worten eine dieser unsichtbaren Grenzen überschritten zu haben, die jeder Mensch im Umgang mit anderen wie einen Schutzwall um sich zieht und die man besser nicht verletzen sollte, wenn man keinen Ärger bekommen will, denn plötzlich bewegt sich meine Mutter so schnell auf mich zu, dass mir gar keine Zeit bleibt zu reagieren. Bevor ich auch nur zurückzucken kann, verpasst sie mir eine schallende Ohrfeige. Erschrocken sehe ich meine Mutter an und starre in ihr grimmiges Gesicht.
„Was bildest du dir eigentlich ein?“ fährt sie mich an. „Das muss ich mir nicht bieten lassen. Und schon gar nicht von dir, Marco! Soweit ich es mitbekommen habe, bist du der Letzte, dem es zusteht, über gescheiterte Beziehungen zu urteilen. Deine Beine können doch gar nicht so schnell laufen, wie du rennen möchtest, wenn Probleme auftauchen.“ Beim letzten Satz hat sich beißender Spott in ihre Stimme gelegt und ich weiß nicht, was mehr wehtut: die Ohrfeige oder ihre Worte.
Meine Finger fahren reflexartig über meine schmerzende Wange. Ich kann mich nicht erinnern, wann meine Mutter mir das letzte Mal eine runtergehauen hat. Hat sie es überhaupt jemals getan?
„Es tut mir Leid“, erwidere ich schließlich kleinlaut, nachdem ich mich ein wenig gesammelt habe, und versuche, den Schaden zu begrenzen. „Aber ihr habt euch schon so oft gestritten und immer wieder vertragen, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass einer von euch beiden tatsächlich genug hat. Dieser Streit war nicht heftiger als andere zuvor. Ich habe immer geglaubt, dass ihr euch trotz allem liebt.“
Ich stecke die Hände in die Tasche und wende mich ab. Ich komme mir auf einmal unglaublich dämlich vor. Ein erwachsener Mann von Mitte dreißig, der die Fassung verliert, weil seine Eltern sich trennen wollen. Doch das Gefühl, dass ich auf eine unerklärliche Art betrogen worden bin, lässt mich nicht los. „Es … es ist, als ob du einen Teil meiner Kindheit zerstören würdest, wenn du Vater verlässt!“ stammele ich und bin den Tränen nah. „Ich kann auch nichts dafür!“
Ich fühle, wie meine Mutter innehält und ein paar Schritte auf mich zukommt. Dann höre ich überrascht ein leises Lachen und spüre ihren Arm auf meiner Schulter. „Marco“, sagt sie, „niemand hat behauptet, dass ich deinen Vater für immer verlassen will.“
„Was? Aber euer Streit … der Koffer … du hast doch darauf bestanden, mit uns mitzufahren!“ Ich bin total verwirrt.
„Ich werde deinen Vater nicht verlassen“, wiederholt meine Mutter seelenruhig. „Du hast völlig Recht: Ich liebe den alten Langweiler viel zu sehr, um mir ein Leben ohne ihn vorstellen zu können. Und an seine Fehler habe ich mich schon längst gewöhnt. Das heißt aber nicht, dass er nicht ab und zu den Bogen überspannt. Seine Bequemlichkeit geht mir schon seit einiger Zeit auf die Nerven. Deshalb wollte ich ihm eine kleine Lektion erteilen. Wie schon gesagt: Es ist alles gut durchdacht. Ich wollte ihm zeigen, dass es auch ohne ihn geht, wenn es sein muss. Ich wollte ihm zeigen, dass er mich niemals als selbstverständlich ansehen darf, dass er sich Mühe geben muss – jeden einzelnen Tag unserer Ehe, auch jetzt noch. Und das habe ich hiermit getan. Wenn ich in ein paar Tagen zurückkehre, wird er verstanden haben, was ich ihm sagen
Weitere Kostenlose Bücher