Und dann der Himmel
er sich darauf, den Wagen durch ein Gewirr von Straßen und Kreuzungen zu dirigieren. Augenscheinlich hat er ein festes Ziel vor Augen, denn nicht ein einziges Mal zögert er an den vielen Abzweigungen. Es ist, als besäße er einen inneren Kompass, der ihn nicht fehlleiten kann.
Eingequetscht zwischen Schwarzwald und Vogesen hat sich Freiburg in einem Tal ausgebreitet und ist fast rundherum von Bergen umgeben. Im Vergleich zu den Orten, die wir in den letzten Tagen besucht haben, ist die Stadt geradezu ein Moloch. Es wimmelt nur so von Fußgängern, Autos und Studenten auf Fahrrädern. Der Lärm ist nach der Stille der Lüneburger Heide und der dörflichen Idylle Himmelstadts geradezu ohrenbetäubend. Angeblich soll Freiburg einer der sonnenreichsten Orte Deutschlands sein, aber angesichts des Nebels, durch den wir fahren und der wie eine sämige Suppe in den Straßen hängt, halte ich das für eine glatte Lüge. Keine zehn Meter weit kann man sehen, und Rafael muss höllisch aufpassen, dass er nicht mit einer der schmalen und scheppernden Straßenbahnen kollidiert, die ständig die Wege kreuzen. Die Sache mit der Sonne ist wahrscheinlich genauso eine Erfindung des örtlichen Fremdenverkehrsamtes wie in Himmelstadt die Erscheinung des Christkinds.
Freiburg gilt ebenfalls als besonders grün und als eine Stadt mit wenig Luftverschmutzung, aber auch dies scheint eine Übertreibung zu sein, denn alle Bäume, an denen wir vorbeikommen, sind kahl und recken ihre laublosen Äste anklagend und bedauernswert in den Himmel, als wären sie erst kürzlich dem sauren Regen zum Opfer gefallen. Als wir auf die Kaiser-Joseph-Straße einbiegen, eine der Hauptverkehrsadern, bleiben wir sogar für ein paar Minuten in einem Stau stecken, und der Geruch der Auspuffgase lässt mich wehmütig an Köln denken.
Während Rafael weiter kreuz und quer durch die Innenstadt fährt, benimmt sich meine Mutter wie ein Tourist auf einer Stadtrundfahrt. Ihre Wangen glühen und sie kann ihre Begeisterung für die Sehenswürdigkeiten kaum bremsen. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, sie wäre tatsächlich seit Jahren nicht mehr aus Himmelstadt herausgelassen worden.
„Schaut mal, das Schwabentor!“ ruft sie aufgeregt, als der Nebel einen Moment aufreißt, und deutet auf einen weiß gestrichenen mittelalterlichen Turm, auf dem der heilige St. Georg in ritterlicher Macho-Manier den Fuß auf ein getötetes Tier stellt, das ich im ersten Moment für eine Ratte oder eine Schlange halte und nur mit viel gutem Willen als Drachen erkennen kann. Kurz darauf ruft meine Mutter: „Schaut mal, das Münster!“
Zwischen zwei Häuserzeilen werfe ich einen kurzen Blick auf den gotischen Bau mitten auf dem Marktplatz und brumme abfällig: „Der Dom ist größer!“ Aber immerhin muss ich zugeben, dass die Kathedrale schon aufgrund der roten Farbe viel freundlicher als der Dom wirkt.
Nach einer langwierigen Parkplatzsuche stellt Rafael das Auto schließlich in einer Seitenstraße in der Nähe der Innenstadt ab. „Geschafft“, sagt er. „Wir sind da.“
Ich blicke mich um und kann nach wie vor nichts Bekanntes erkennen. „Hier soll jemand wohnen, mit dem ich mal zu tun gehabt habe?“
„Das habe ich nicht gesagt“, sagt Rafael. „‚Wohnen‘ ist in diesem Zusammenhang wahrscheinlich ein etwas unpassender Ausdruck. Aber steig erst mal aus, wir müssen noch ein paar Schritte laufen.“ Während ich hinter ihm nach draußen klettere, fügt er hinzu: „Sei vorsichtig, wo du hintrittst!“ Doch da ist es bereits zu spät. Ich stehe mit beiden Füßen in einer tiefen Pfütze und spüre, wie die Feuchtigkeit durch meine Sportschuhe dringt und meine Socken durchweicht.
„Das hast du mit Absicht gemacht!“ werfe ich Rafael wütend vor und sehe mich Mitleid heischend nach meiner Familie um. Aber niemand kümmert sich um mich, alle folgen Rafael, der zielstrebig seinen Weg fortsetzt. Schlecht gelaunt schlappe ich den anderen hinterher. Meine Schuhe lassen bei jedem Schritt einen feuchten Abdruck auf dem Bürgersteig zurück.
Nach einem kleinen Fußmarsch bleibt Rafael vor einem Café stehen und öffnet die Tür. Der Duft von frischen Croissants und Kakao weht uns entgegen. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Es ist zwar schon fast Zeit zum Mittagessen, aber gegen ein zweites Frühstück habe ich auch nichts einzuwenden.
Doch Rafael hat andere Pläne für mich. Während sich die anderen ihrer Jacken und Mäntel entledigen, einen Tisch am Fenster
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