Und dann der Himmel
suchen und sich auf die Karte stürzen, hält er mich zurück und sagt: „Du nicht, Marco. Wir müssen weiter.“
Sabine und meine Mutter sehen Rafael fragend an. „Bleibt einfach hier, macht es euch gemütlich und wartet, bis wir zurückkommen“, erklärt er. „Wir sind ganz in der Nähe. Es wird nicht sehr lange dauern.“
„Aber ich will auch was essen oder zumindest meine Füße trocknen!“ widerspreche ich. „Und warum dürfen die anderen uns nicht begleiten?“
„Weil du niemanden dabei haben möchtest“, erwidert Rafael knapp. Seine Antwort ist nicht sonderlich hilfreich, und ich bekomme ein mulmiges Gefühl im Magen.
„Kann ich nicht wenigstens Adolf mitnehmen?“ Aber ich muss auf die moralische Unterstützung und den fragwürdigen Schutz der Dogge verzichten. Der Verräter hat es sich schon unter dem Tisch gemütlich gemacht und knabbert eines der Holzbeine an. Zusammen verlassen Rafael und ich das Café und ich werfe einen sehnsüchtigen Blick zurück auf meine Familie. Im Hinausgehen bekomme ich noch mit, wie meine Mutter Fridolins Käfig neben sich auf den Tisch stellt und sich damit die Missgunst der Bedienung einhandelt.
„Wenn der Hamster gehen muss, gehen wir alle!“ erklärt ihr meine Mutter mit einem herausfordernden Blick. Dann schlägt hinter uns die Tür zu und die Kälte des winterlichen Vormittags fängt uns wieder ein.
Draußen runzele ich verärgert die Stirn. „Jetzt sag mir endlich, wo wir hingehen“, fordere ich Rafael auf. „Oder soll das so eine Art Schnitzeljagd werden?“ Eigentlich wollte ich durch diese nicht ganz ernst gemeinte Bemerkung meine steigende Nervosität überspielen, aber meine krächzende Stimme verrät meine Anspannung. Vor den Besuchen bei meiner Schwester und bei meinen Eltern hatte ich eine gewisse Vorbereitungszeit, die vertrauten Landstriche ließen mich Rafaels Absichten zumindest erahnen, aber in dieser fremden Stadt habe ich keinen blassen Schimmer, was auf mich zukommt, und Rafaels Einsilbigkeit bringt mich keinen Deut weiter.
Wir überqueren die Straße und dann bleibt Rafael schon wieder stehen. „Hier“, sagt er, „das ist der Ort, den ich dir zeigen wollte.“
Neben dem Bürgersteig beginnt eine Art Grünanlage und mein Blick fällt auf den Eingangsbereich, ein Portal, das aus drei beigefarbenen Sandsteinbögen besteht, hinter denen ein lang gezogener schnurgerader Weg beginnt, der an eine Allee vor einem Schloss erinnert. Links und rechts des Weges sind Blumenrabatten aus winterharten Erika gepflanzt.
„Ich verstehe kein Wort“, sage ich, „das ist doch ein Park. Wer soll denn hier wohnen?“
„Das“, berichtigt mich Rafael, „ist ein Friedhof, genauer gesagt, der Hauptfriedhof von Freiburg.“
„Und was soll ich hier?“
„Komm mit“, sagt Rafael anstelle einer Antwort und nimmt meine Hand, „geh mit mir spazieren. Die Anlage ist schön.“
Zögernd begleite ich Rafael durch das Portal und das unbestimmte, bedrückende Gefühl, das mich seit unserer Ankunft in Freiburg verfolgt, wird stärker.
Es ist einsam und still auf dem Friedhof. Wenige Menschen sind zu dieser Tageszeit unterwegs, nur eine alte, gebückte Frau begegnet uns. In der einen Hand hält sie eine kleine Harke, in der anderen ein Büschel Unkraut, mit dem sie einen Komposthaufen ansteuert. Ihre Lippen bewegen sich in einem lautlosen Selbstgespräch. Wir laufen ein Stück die Allee entlang und biegen dann nach rechts ab, bis wir auf einen kleinen, verträumten Teich treffen, in dem ein paar Enten schnattern und an dessen Rand verstreut windschiefe und verwitterte Grabsteine aus der Erde ragen. Man sieht ihnen an, dass sie von der Zeit vergessen worden sind, genauso wie die Menschen, die unter ihnen begraben liegen. Rotbuchen säumen das Ufer und Trauerweiden, deren hängende Äste bis ins Wasser reichen. Ein altes, hölzernes Ruderboot liegt verlassen im Gras und am anderen Ende des Teichs steht eine kleine Kapelle. Die Sonne bricht durch den nebelverhangenen Himmel und verwandelt diesen Ort für einen Moment in eine verwunschene Welt, bevor sie wieder hinter dichtem Dunst verschwindet.
Rafael führt mich weiter die verwinkelten Wege entlang und wir passieren einige gepflegte und liebevoll bepflanzte Reihengräber, aber auch viele alte Grabdenkmäler, an denen Efeuranken hochkriechen und deren Inschriften kaum noch zu entziffern sind. Ein Eichhörnchen huscht an uns vorbei und rennt geschäftig den Stamm einer Zeder hinauf.
In einer Nische,
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