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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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die Erde bebte. Wie konnte das sein? Wieso hatte er das mit keinem Wort erwähnt? Wie hatte er das vor mir geheimhalten können?
    „Du … du hast Aids?“ stotterte ich.
    „Ich bin positiv“, verbesserte mich Philipp. „Wie viele andere auch, mit denen du bisher Sex hattest, ohne dass du etwas davon wusstest. Willst du was trinken?“ Er schlurfte in die Küche, machte sich am Kühlschrank zu schaffen und kam mit zwei Gläsern Apfelschorle zurück.
    Sprachlos und verwirrt ließ ich mich in einen Sessel fallen. Ich wollte nichts trinken, ich wollte reden. Wie konnte er glauben, diese Sache mit einem einzigen Satz abtun zu können? „Wir sind seit ein paar Wochen zusammen, und du hast mir nicht gesagt, dass du positiv bist?“
    „Wir haben nichts Gefährliches gemacht!“ verteidigte sich Philipp aufbrausend. „Wir haben immer ein Kondom benutzt, oder?“
    „Darum geht es doch überhaupt nicht!“ brüllte ich ihn fassungslos an und stieß das Glas weg, das er mir anbot. Die Apfelschorle schwappte auf den Teppich und hinterließ einen dunklen Fleck. „Ich hatte ein Recht, es zu erfahren! Wieso hast du mir nichts erzählt?“
    „Ein Recht, es zu erfahren?“ sagte Philipp. Da war wieder dieses wütende Funkeln in seinen Augen. „Ich glaube nicht. Solange ich dich keiner Gefahr aussetze … was soll das überhaupt, Marco? Irgendwann hätte ich es dir schon noch erzählt. Ich lebe seit Jahren damit, warum machst du dir Sorgen?“
    Ich starrte Philipp an wie einen Fremden. War er wirklich so naiv? Ich hatte ihm mein ganzes Leben erzählt, nicht die geringste Kleinigkeit ausgelassen, und er befand es nicht für nötig, mich über seine HIV-Infektion zu informieren? Ein dicker Kloß in meinem Hals machte mir das Atmen schwer, es war, als müsste ich gleich ersticken
    Langsam stand ich auf und ging zur Tür. „Ich fahre nach Hause“, sagte ich tonlos. „Ich muss nachdenken. Ich muss allein sein.“
    „Du verlässt mich, weil ich positiv bin?“ fragte Philipp. Seine Stimme klang ungläubig, verletzt.
    Ich schüttelte den Kopf, ohne mich umzudrehen. Erst als ich unten auf der Straße stand, löste sich der Kloß und ich konnte frei atmen.
    Ich habe Philipp nie wieder gesehen.
    „Du hast ihn verlassen, weil du ihm nicht mehr vertraut hast?“ fragt Rafael.
    Ich nicke. „Ja. In den Wochen danach habe ich oft das Telefon in der Hand gehabt, aber ich brachte es nicht über mich, seine Nummer einzutippen. Er hat auch nie mehr angerufen.“
    Es hat angefangen zu regnen, ohne dass ich es gemerkt habe. Feiner Nieselregen legt sich wie ein schmieriger Film auf meine Haare und meine Jacke. Ich friere. Meine Füße fühlen sich an wie Eisklumpen. Rafael berührt mich sanft am Arm und ich zucke zusammen.
    „Alles in Ordnung?” fragt er.
    Erneut hat er meine Gedanken gelesen, aber diesmal bin ich nicht wütend auf ihn, nur traurig. Noch immer starre ich auf das unscheinbare Fleckchen Erde, unter dem Philipp begraben liegt.
    „Nein“, antworte ich bedrückt. „Natürlich nicht. Wie kann alles in Ordnung sein, wenn ich mir das Grab von jemandem ansehen muss, für den ich mal so was wie Liebe empfunden habe?“
    Rafael schweigt. Er wartet darauf, dass ich weiterrede. „Wieso liegt er hier?“ frage ich schließlich. „Wie ist er gestorben? War jemand bei ihm, als …“ Ich kann den Satz nicht zu Ende sprechen.
    Mir liegen noch viel mehr Fragen auf der Zunge. Wie hat sein Leben nach mir ausgesehen? Was hat er in den Jahren nach unserer Trennung getan, gedacht, gefühlt? Hat er so etwas wie Schuld empfunden? Und doch stelle ich diese Fragen nicht, denn die Antworten stehen mir nicht zu. Hätte er mich wieder in seinem Leben gewollt, hätte er ja Kontakt aufnehmen können, ich war immer nur einen Anruf weit entfernt. Weder er noch ich haben diesen Schritt allerdings getan, aus welchen Gründen auch immer. Aber das ist auch nicht das Problem, das ist okay. Ich empfinde keinen Liebeskummer mehr, wenn ich an ihn denke. Was mich stört, ist die Endgültigkeit seines Todes. Obwohl wir uns nichts mehr zu sagen hatten und unsere Leben keine Berührungspunkte mehr besaßen, war bis vor wenigen Minuten in meinem Hinterkopf die Gewissheit, dass Philipp an irgendeinem Ort auf dieser Welt sein Leben lebt, und dieses Wissen war wie ein unsichtbarer Faden, der uns verband, auch wenn ich in den letzten Jahren keinen Gedanken an diesen Mann verschwendet habe. Indem Rafael mir Philipps Grab gezeigt hat, hat er diesen Faden

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