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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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abzuservieren, der auch an dich Erwartungen hat.“
    „Billige Moralpredigt“, flüstere ich verstört und tue so, als prallten Rafaels Worte an mir ab. „Ist das dein bester Versuch?“
    Rafael zuckt mit den Schultern. „Es ist die Wahrheit.“ Seine Stimme hört sich plötzlich resigniert an, gleichgültig, als hätte er die Hoffnung aufgegeben, etwas in mir zu verändern. Ich fühle einen Stich in meinem Herzen.
    „Wie ist er gestorben?“ wiederhole ich leise meine Frage von eben und deute mit dem Kinn auf Philipps Grabstein. „War er … allein?“
    „Nein.“ Die Andeutung eines Lächelns stiehlt sich über Rafaels Lippen. „Zum Schluss war er nicht allein.“
    „Woher willst du das wissen?“
    „Ich war da“, sagt Rafael einfach. „Ich habe auf ihn gewartet.“ Als er mein ungläubiges Gesicht sieht, fügt er hinzu: „Das ist eine meiner vielen Aufgaben, Marco.“
    „Ihr … ihr holt die Sterbenden ab?“ stottere ich. „So wie in Stadt der Engel ?“ Ich weiß, es ist ein blöder Vergleich, aber es ist das einzige Bild, das mir dazu einfällt.
    „Wir warten“, verbessert mich Rafael. „Und wenn die Zeit gekommen ist, versuchen wir ihnen die Angst zu nehmen. Wir erleichtern den Übergang. Und ich fand Nicolas Cage als Engel eigentlich ziemlich überzeugend“, schiebt er amüsiert hinterher und bricht damit den ernsten und düsteren Ton unserer Auseinandersetzung. Auch seine Verärgerung über mich scheint wie weggeblasen zu sein, denn plötzlich steht wieder der grinsende und zu allem möglichen Unsinn aufgelegte Rafael vor mir.
    „Lass uns zurückgehen“, sagt er, zupft auffordernd an meinem Ärmel und ich lasse mich widerstrebend wegziehen. „Deine Familie ist schon ungeduldig.“ Aus einer Laune heraus stehle ich eine der Plastikrosen aus der Vase auf dem Grab. Plötzlich brauche ich eine Erinnerung an Philipp, die nicht so vergänglich und unzuverlässig ist wie mein Gedächtnis.
    Tatsächlich hat Rafael erreicht, was er wollte, auch wenn es mir in diesem Moment noch gar nicht bewusst ist. Der Ort, den er mir gezeigt hat und der Schock über Philipps Tod haben meine Widerstandsreserven erschöpft und die Anschuldigungen des Engels gehen mir unter die Haut wie ein Mückenstich, der seine Anwesenheit durch einen ständigen Juckreiz in Erinnerung ruft. Nur dass es gegen Rafaels Vorwürfe keine Salben oder Wässerchen gibt. Ich kann spüren, wie sich seine Worte in meinem Kopf vermehren und miteinander verbinden, ganze Sätze und Geschichten bilden, größer werden und lauter. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie unüberhörbar geworden sind und mich zwingen werden zu reden.
    Auf dem Rückweg zum Ausgang des Hauptfriedhofs kommen wir an einer Beerdigung vorbei. Zwischen zwei Bäumen ist ein Grab ausgehoben worden, die Erde liegt aufgehäuft am Rande des klaffenden Lochs, daneben der Sarg. Am Kopfende des Grabes steht ein Priester, ein junger Mann mit weichen Gesichtszügen, der mit unsicherem Blick und im Wind wehender Soutane auf die Trauergemeinde wartet, die sich am Fußende des offenen Grabes versammelt.
    Es sind nicht viele Menschen, die zu dieser Beerdigung gekommen sind, ein paar alte Frauen, die mit ihren dürren Beinen und in ihrer schwarzen Kleidung wie Krähen wirken, zwei junge Frauen, die Kinderwagen vor sich herschieben und nervös auf ihre Uhren starren, und ein gebrechlicher, glatzköpfiger Mann im Rollstuhl mit Altersflecken im Gesicht, der von einem Zivildienstleistenden an das Grab herangefahren wird. Neben ihm baut sich ein vierköpfiger Trupp älterer Herren in traditioneller, grüner Jägerkleidung auf, die Jagdhörner in den Händen halten und offensichtlich beabsichtigen, dem Verstorbenen ein letztes Geleit zu schmettern. Ich will rasch vorbeigehen, aber Rafael hält mich zurück und deutet auf eine weitere, kleine Gruppe von Menschen, die etwas abseits der anderen stehen. Im Gegensatz zum Rest der Trauergemeinde sind sie farbenfroh gekleidet und unterhalten sich lebhaft, wenn auch mit unterdrückten, um Rücksichtnahme bemühten Stimmen. Im ersten Moment halte ich sie für eine Gruppe von Sinti und Roma, die sich hierhin verirrt haben, denn sie haben auch ihre Kinder und Haustiere im Schlepptau, doch als wir näher kommen, erkenne ich, wer diese Leute wirklich sind. Meine Familie.
    So rasch und unauffällig wie möglich schließen Rafael und ich zu ihnen auf. Adolf sitzt mit eingeklemmtem Schwanz etwas versteckt hinter meiner Mutter und sieht irgendwie

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