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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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zerrissen.
    „Vermisst du ihn?“ fragt er mich jetzt.
    „Vermissen?“ Nachdenklich versuche ich, meine wirren Emotionen zu ordnen. „Nein. Ich glaube, was mir fehlt, ist das Gefühl, dass er lebendig ist.“
    „Ah!“ sagt Rafael und wischt sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. „Du bedauerst den Verlust einer Möglichkeit.“
    Ich habe den leisen Verdacht, dass Rafael mich absichtlich missversteht. „Nein“, wiederhole ich. „Wir hatten unsere Chance. Vielleicht wäre zwischen uns alles anders gekommen, wenn er ein bisschen offener gewesen wäre.“
    „Gerade diese Verschlossenheit hat ihn aber für dich auch so anziehend gemacht“, gibt Rafael zu bedenken.
    „Das ist nicht wahr“, sage ich wider besseres Wissen. „Ich fand es …“
    „Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn du ein bisschen weniger auf deine persönlichen Verletzungen geachtet und ein bisschen mehr Geduld bewiesen hättest!“ unterbricht mich Rafael.
    „Geduld?“ frage ich erstaunt. „Was meinst du damit?“
    „Herr im Himmel!“ ruft Rafael, legt den Kopf in den Nacken und sieht verzweifelt in das nebelverhangene Grau über uns. „Dies ist eine Bildungsreise, Marco! Wie kommt es, dass du nichts lernst? Kannst du nicht oder willst du nicht?“
    Ich sehe ihn perplex an. Sein Gefühlsausbruch kommt völlig unerwartet. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst“, sage ich.
    Rafael seufzt. „Na schön“, erwidert er und holt tief Luft. „Anscheinend muss ich es für dich wirklich laut und deutlich formulieren: Du wirst niemals jemanden finden, mit dem du glücklich werden kannst, wenn du nicht von deinem hohen Ross heruntersteigst! Du bist nicht das Zentrum des Universums. Genauso wenig wie die Männer, mit denen du bisher zu tun hattest, bist du fehlerlos.“
    „Ich hatte jedes Recht dazu, auf Philipp sauer zu sein! Er hat mein Vertrauen missbraucht und sich noch nicht einmal dafür entschuldigt!“ Ich habe das Gefühl, dass ich etwas richtig stellen muss. „Es ging mir doch nie darum, dass ich Angst hatte, von ihm angesteckt zu werden. Aber er hätte es mir erzählen müssen!“
    „Ja, das stimmt“, gibt Rafael zu und ich sehe ihn erstaunt an. Seit wann sind wir einer Meinung? „Glaubst du, das weiß ich nicht? Aber manchmal ist es notwendig, über den eigenen Schatten zu springen und zu verzeihen, auch wenn der andere im Unrecht war. Und du hast Philipp keine zweite Chance gegeben! Aber über den wahren Grund, warum du ihn verlassen hast, haben wir noch nicht gesprochen, nicht wahr?“
    „Ich …“ Mir graut davor, was Rafael sagen wird.
    „Du hast ihn im Stich gelassen, weil du Angst hattest! Angst davor, Verantwortung zu übernehmen, Angst davor, es nicht aushalten zu können, wenn es ihm schlecht geht – wenn er sterben würde! Damit wolltest du nichts zu tun haben!“
    Jedes Wort von Rafael fühlt sich an, als ob er mit einem Hammer einen Nagel in mein Fleisch schlagen würde. Jedes Wort tut entsetzlich weh. Eine Erinnerung blitzt durch meinen Kopf, eine Erinnerung an jenen Tag, als ich nach der Auseinandersetzung mit Philipp im Zug nach Hause saß und mir einen ausgemergelten, inkontinenten und bettlägerigen Mann vorstellte, der keine Ähnlichkeit mehr mit dem Philipp hatte, den ich kannte. Ich war mir sicher, dass ich das nicht ertragen könnte. Voller Abscheu vor mir selbst und Angst vor dem, was auf mich zukommen könnte, kauerte ich mich in meinen Sitz im Zugabteil, kniff die Augen zu und öffnete sie erst wieder, als die Bahn im Kölner Hauptbahnhof einfuhr.
    „Sei still!“ stoße ich hervor und halte mir die Ohren zu. „Ich will das nicht hören!“ Gleichzeitig drehe ich mich um und versuche wegzurennen, aber Rafaels verärgerte Stimme hält mich fest.
    „Ich werde es dir trotzdem sagen, Marco, und du wirst mir zuhören. Du bist überheblich und egoistisch, weil du der Meinung bist, dass deine Erwartungen und Ansprüche das Maß aller Dinge sind. Du bist ungeduldig, weil du niemandem die Chance gibst, zu wachsen und sich zu verändern. Du bist ein Feigling, weil du dich davor fürchtest, dass in einer Freundschaft nicht immer eitel Sonnenschein herrscht. Du bist kaltherzig, weil du nicht verzeihen kannst. Und du bist dumm, weil du damit jeden verjagst, der dir Gefühle entgegenbringt. Das Schlimmste aber ist, dass du im Grunde deines Herzens deine Fehler kennst, aber du versuchst sie zu verbergen. Dein Verlangen nach Treue ist nur vorgeschoben: eine gute Entschuldigung, jeden

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