Und dann der Himmel
sind. Ich betrachte meine Familie, die mich auf so wundersame Weise auf dieser Reise begleitet. Der Kopf meiner Mutter ist nach unten gesunken, bis sich ihr Doppelkinn auf ihrer Brust abstützt. Ihr Mund ist leicht geöffnet und ich kann dezente Schnarchgeräusche hören. Zu ihren Füßen liegt Adolf, die hamsterfressende Dogge, auch sein Atem geht ruhig und stetig, seine Ohren jedoch zucken selbst im Schlaf bei jedem Geräusch aufmerksam hin und her. Auf der Mitte der Rückbank sitzt meine Schwester, die Augen geschlossen, den Kopf zur Seite geneigt und ihre Kinder links und rechts in beschützenden Umarmungen um sich geschart. Annika gurgelt leise, während sie träumt, und Simon hält noch im Schlaf ein Malbuch in seinen Händen. In diesem friedlichen Bild fehlt eigentlich nur mein Vater, aber seitdem ich weiß, dass er uns nur zeitweise abhanden gekommen ist, stört mich seine Abwesenheit nicht ganz so sehr. Auf einmal bin ich froh, dass ich meine Familie um mich habe, auch wenn jeder für sich genommen ein Albtraum sein kann.
Ich bemerke, wie Rafael mich lächelnd beobachtet, und drehe mich nach vorne. Die Landschaft, die an uns vorbeifliegt, wird nun endgültig immer winterlicher. Rafael hat die Richtung geändert und lenkt den Wagen langsam ostwärts. Die Berge am Horizont werden höher, die Bäume und der Boden sind dicht mit Schnee bedeckt.
„Und wohin fahren wir jetzt?“ frage ich und drücke die Reste einer Zigarette im Aschenbecher aus.
„Weißt du das wirklich nicht?“ fragt Rafael zurück.
„Doch“, antworte ich leise. „Ich weiß nur nicht, ob ich schon bereit bin.“
„Dann schlaf, Marco. Vielleicht findest du die Antwort darauf im Schlaf.“
Gehorsam schließe ich die Augen und spüre, wie die Erschöpfung auch über mich herfällt. Diesmal kämpfe ich nicht. Schneller und schneller sinke ich meinem Unbewussten entgegen, immer fester umhüllt mich der Schlaf, den ich so lange verdrängt habe, und zum ersten Mal, seit Rafael in meinem Leben aufgetaucht ist, leiste ich meinen Träumen keinen Widerstand.
Finn rüttelt noch einmal an der Tür, um sich zu vergewissern, dass er wirklich abgeschlossen hat. Es schneit, der Schnee fällt in dichten Flocken aus einem eisgrauen Himmel. Finn hat das Gefühl, durch einen weichen Vorhang aus Federn zu laufen, während er hinter Rafael herstapft, der schon einige Schritte vorausgegangen ist und ungeduldig auf ihn wartet.
„Los, komm schon“, hört er Rafaels Stimme durch das Schneegestöber rufen, noch bevor er die Gestalt des Engels vor sich auftauchen sieht.
Finn streckt seine Arme aus und prüft die Konsistenz der Flocken. Selbst auf seinen warmen Fingern dauert es einige Sekunden, bevor sie schmelzen. Der Schnee wird liegen bleiben – zumal die Temperatur knapp unter null Grad gesunken ist. Finn zieht die Mütze fester über seine Ohren und schüttelt mürrisch den Kopf. Dann packt er die Säge und die Axt fest in die Hand und schließt zu Rafael auf.
„Das ist eine Schnapsidee“, knurrt er, „man sieht ja kaum die Hand vor Augen.“
„Es ist kurz vor Heiligabend und du hast keinen Tannenbaum“, weist ihn Rafael zurecht und trottet fröhlich neben ihm den Weg entlang, der zu einer der von Finn selbst angelegten Baumschulen führt.
„Wozu auch!“ erwidert Finn. „Ich habe nichts zu feiern.“
„Wenn ich nicht überraschend aufgetaucht wäre, hättest du vielleicht nie wieder etwas zu feiern gehabt.“
„Wenn du mir nicht dazwischen gefunkt hättest, müsste ich mir nie wieder Gedanken über einen Weihnachtsbaum machen. Warum fahren wir nicht einfach ins Dorf? Da gibt es einen Verkaufsstand mit Weihnachtsbäumen. Weißt du, was für eine elende Plackerei du uns beiden zumutest?“
„Papperlapapp“, wischt Rafael Finns Einwände beiseite. „Einen Baum selber schlagen ist viel lustiger. Und außerdem wird dir die frische Luft gut tun. Arbeit im Freien vertreibt dunkle Gedanken. Hilft gegen Depressionen, steigert die Serotonin-Produktion, du weißt schon, dieses Glückshormon, das Gott in seiner unendlichen Weisheit … was ist?“ Rafael sieht sich irritiert um, als Finn unvermittelt zurückbleibt.
„Kannst du nicht einfach mal die Klappe halten, Engel?“ fragt Finn.
Rafael macht ein beleidigtes Gesicht. „Irgendwie kann ich Marco fast verstehen“, brummelt er leise vor sich hin, aber gerade noch so laut, dass Finn ihn hören kann, „was für ein alter Miesepeter, der sollte dringend mal positives Denken üben
Weitere Kostenlose Bücher