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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Priester in den letzten Minuten wie ein Ertrinkender geklammert hat. Doch nachdem ihm auch dieser rettende Strohhalm genommen wird, ist es endgültig aus mit seiner Beherrschung. Geschlagen lässt er die Arme sinken und murmelt: „Ich kann nicht mehr.“
    Auf diesen Augenblick scheint Rafael nur gewartet zu haben. Bevor ich ihn zurückhalten kann, prescht er nach vorne und bietet dem überraschten Priester seine Hilfe an.
    „Ja … aber … aber das geht doch nicht!“ stottert der Gottesmann verzweifelt.
    „Doch, doch“, erwidert Rafael und klopft ihm auf die Schulter. „Das geht schon in Ordnung!“
    Der Selbstherrlichkeit des Engels ist der Priester nicht gewachsen und tritt unfreiwillig ein Stück zur Seite. Hinter mir hält sich Sabine die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen, und ich schließe entsetzt die Augen.
    O Gott, denke ich. Nicht schon wieder! Was hat er nur gegen Geistliche?
    Die Trauergäste sind so überrumpelt von dieser unerwarteten Entwicklung, dass sie wie festgewachsen stehen bleiben und Rafael mit offenem Mund anstarren.
    „Es ist wahr“, beginnt der Engel seine Grabrede und wendet sich wie der Heilsbringer persönlich mit ausgebreiteten Armen an die Beerdigungsgesellschaft, „Hubertus Kertmaier war kein besonders angenehmer Zeitgenosse. Er war geizig, egoistisch, rechthaberisch und jähzornig.“ Der Opa im Rollstuhl fängt heiser an zu lachen, bis ihn ein Hustenanfall schüttelt. Eine der jungen Frauen beginnt hektisch in ihren Manteltaschen zu kramen und zerrt eine Schachtel Zigaretten hervor. Der Wind nimmt zu und zerzaust Rafaels Locken, doch der Engel spricht unbeirrt weiter. „Um der Wahrheit Ehre zu tun, ich hätte ihn wahrscheinlich auch nicht leiden können, wenn ich ihn gekannt hätte. Mit seiner ständigen Nörgelei ist er zeit seines Lebens seiner Frau und seiner Umwelt auf die Nerven gefallen, bis sie das Weite gesucht hat – seine Frau, meine ich …“, hier werden Rafaels Worte vom heftigen Nicken einer der schwarzen Krähen begleitet, „… er hat seine Enkelin enterbt, obwohl sie ein Kind Gottes unter dem Herzen trug, und er hat jahrelang und bis heute unentdeckt die Mitgliedsbeiträge des Jagdhornblasvereins Freiburg Halali 1903 e. V. veruntreut.“ Das Scheppern eines zu Boden fallenden Blechblasinstruments unterbricht Rafaels Redefluss kurzzeitig. „Das einzig Positive, was mir zu Hubertus Kertmaier einfällt, ist, dass er sich seiner schlechten Charaktereigenschaften bewusst war und ganz hervorragend zotige Witze erzählen konnte.“ Der Priester schlägt die Hände vors Gesicht und der Opa im Rollstuhl kann sich vor Lachen nicht mehr halten. Er haut sich auf die Oberschenkel, bekommt keine Luft mehr und läuft so rot an, dass der Zivildienstleistende sich besorgt über ihn beugt. Rafael zwinkert mir zu und ich habe den Eindruck, dass er jetzt endgültig und komplett übergeschnappt ist. „Und trotzdem“, fährt Rafael auf einmal ernst geworden fort, während der Wind immer böiger wird und nun auch am Trenchcoat des Engels zerrt, „Jesus hat schon vor zweitausend Jahren gesagt, dass nur der, der ohne Sünde ist, den ersten Stein werfen darf. Deshalb sollten wir uns hüten, über diesen fehlbaren Menschen zu richten. Das ist allein Gottes Angelegenheit. Und wie ich aus gut unterrichteter Quelle weiß“, fügt er grinsend hinzu, „hat der Mann am Ende seines irdischen Daseins seine Fehler ehrlich bereut. Gott wird also ein Auge zudrücken und ihn in seine Herrlichkeit aufnehmen, auf die hier auf der Erde jedermann so scharf ist. Das ist übrigens die Eigenschaft, die ich an Gott am meisten bewundere: sein immer wieder erstaunlicher Wille, zu verzeihen und das Gute im Inneren der Menschen zu erkennen. Es ist etwas, das vielen von euch abhanden gekommen ist.“
    Bei diesem letzten Satz sieht mir Rafael in die Augen und ich ziehe einen Flunsch. Wenn er mir damit eine Botschaft zukommen lassen will, dann habe ich keine Lust, sie zu verstehen. Ich habe in letzter Zeit genug Asche auf mein Haupt gestreut.
    Immerhin haben Rafaels Worte den Effekt, den jungen, bis dahin in lethargischer Verzweiflung verharrenden Priester wieder zu sich kommen zu lassen. Die Muskeln in seinem Gesicht arbeiten wild, seine Haare stehen nach allen Seiten ab, als hätte er den leibhaftigen Teufel gesehen, und sein Adamsapfel tanzt wie ein Jojo auf und nieder. „Das ist keine Grabrede, das ist Gotteslästerung!“ schreit er und hält Rafael etwas übereifrig sein Ritualbuch

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