Und dann der Himmel
„Viel zu klein. Du brauchst einen großen Baum!“
„Wir brauchen vor allen Dingen einen Baum, den wir tragen können“, erwidert Finn. „Was ist mit dem?“ Er deutet auf einen anderen Kandidaten.
Rafael schüttelt empört den Kopf. „Die unteren Zweige sind krumm und er hat eine mickrige Spitze. Die Spitze ist überhaupt das Wichtigste an einem Weihnachtsbaum“, belehrt er Finn. „Sie muss kerzengerade in den Himmel streben und oben drauf gehört ein Engel mit goldenem, lockigem Haar.“
„Dann können wir dich ja schon mal nicht draufsetzen“, sagt Finn und versucht ernst zu bleiben. „Im Übrigen besitze ich keinen Rauschgoldengel. Ich kann nur mit ein paar bunten Kugeln und einigen roten Holzäpfeln als Dekoration dienen. Irgendwo in einer Kiste im Keller.“
„Nicht mal Strohsterne hast du?“ Rafael zieht enttäuscht die Augenbrauen zusammen und läuft weiter in den Wald hinein. „Wir nehmen den hier!“ ruft er schließlich und deutet auf eine mehr als zwei Meter hohe Tanne mit ausladenden Ästen und einer imposanten Spitze.
„Na schön.“ Bevor Rafael es sich anders überlegen kann, treibt Finn mit einem weit ausholenden Schlag seine Axt in den Stamm des Baumes. Das Holz fängt an zu knirschen. Beim zweiten Schlag neigt sich die Spitze ein wenig zur Seite. Kleine Holzspäne fliegen durch die Luft. Finn wischt sich den Schweiß von der Stirn. Nach dem dritten Hieb gibt der Baum seinen Widerstand auf und kracht ächzend ins Unterholz. Aufgewirbelter Pulverschnee hüllt Finn und Rafael ein wie eine Wolke.
Finn drückt Rafael die Säge in die Hand. „Dein Part!“
Rafael sieht ihn verständnislos an. „Wie, mein Part?“ protestiert er. „Damit wir uns nicht missverstehen: Ich bin der Engel und du der Mensch! Ich bin hier für die geistige Anstrengung zuständig und du für die körperlich erniedrigenden Arbeiten!“
„Jetzt stell dich nicht so an!“ erklärt Finn amüsiert. „Säg die schlechten Zweige ab und die, die ganz unten wachsen! Sonst können wir die Tanne weder nach Hause schleifen, noch in einem Ständer aufstellen.“ Er bearbeitet das Ende des Baumstammes mit der Axt, sodass er spitz zuläuft, während sich Rafael murrend an die Arbeit macht.
„Puh“, sagt er, als er endlich die Säge zur Seite legt und befriedigt sein Werk betrachtet, „ganz schön viel Arbeit.“
„Wir sind noch nicht fertig“, erwidert Finn. „Jetzt müssen wir das Monstrum noch zurück zum Haus zerren. Pack mit an.“
Zusammen fassen sie den Stamm der Tanne und begeben sich auf den Rückweg. Nachdem sie das Wäldchen verlassen haben und das offene Feld erreichen, macht der Neuschnee das Laufen schwieriger, immer wieder sinken ihre Schuhe in dem blendenden Weiß ein und schon nach wenigen Minuten kommt ihr beider Atem keuchend und angestrengt. Schweigend stapfen sie nebeneinander her, kämpfen mit den ausladenden Ästen, die ein gleichmäßiges Vorwärtskommen fast unmöglich machen.
„Also“, sagt Rafael plötzlich, „was ist passiert?“
Finn stolpert über einen Stein. Rafaels Frage trifft ihn unvorbereitet. „Was soll schon passiert sein?“ knurrt er und reibt sich seine schmerzende Kniescheibe. „Ich habe ihn betrogen. Was sonst?“
Rafael wartet auf eine ausführlichere Erklärung, aber Finn tut so, als hätte er alles gesagt, was es zu diesem Thema zu sagen gibt. Seine Lippen sind zu einem schmalen Strich zusammengekniffen.
Als sie zurück sind, schlägt Finn die Axt in den Baumstumpf vor dem Haus und lässt sie dort stecken. Dann schütteln sie die Tanne aus, um die Zweige von den Schneeresten zu befreien, und schleppen sie ins Wohnzimmer, wo Finn sie schweigend in einem Christbaumständer befestigt. Danach geht Rafael in die Küche und kocht Tee. Er kann spüren, wie es in Finn arbeitet. Besser, ihn eine Weile in Ruhe zu lassen.
Als er fertig ist, tritt Finn ein paar Schritte zurück, um stumm den Baum zu betrachten. Der Engel hat Recht gehabt, auch wenn er es nur ungern zugibt. Er braucht einen großen Baum dieses Jahr, trotz allem – oder gerade deswegen. Wie ein Ausrufezeichen steht die Tanne in seinem Wohnzimmer und zum ersten Mal seit Wochen fühlt Finn Widerstand gegen die alles erdrückende Traurigkeit in sich wachsen. Nicht alles war seine Schuld.
Er läuft in den Keller und kramt aus einem Regal die Kiste hervor, in der er den wenigen Weihnachtsschmuck aufbewahrt, den er besitzt. Dabei fällt sein Blick auf das Gewehr, das an der Wand lehnt. Langsam und
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