Und dann der Himmel
…“
„Rafael“, unterbricht Finn und sieht den Engel scharf an, „sprich es mir in einen Sack und stell’s mir vor die Tür. Ich höre es mir dann später an.“
Rafael wendet sein Gesicht ab, damit Finn ihn nicht lächeln sehen kann. Er wird noch einen richtigen Spaßvogel aus diesem Mann machen.
Der Engel ist ganz zufrieden mit sich. Seine Aufgabe ist fast erledigt. Alles, was er jetzt noch erreichen muss, ist, Finn dazu zu bringen, über die Trennung von Marco zu sprechen. Das wird allerdings noch mal ein hartes Stück Arbeit und dabei ist er schon so erschöpft. Rafael kann fühlen, wie ihn seine Kräfte langsam im Stich lassen. Die Zeit, die ihm gegeben wurde, rinnt davon, schmilzt wie die Schneeflocken, die sich in seinen Haaren verfangen.
Jedes Mal, wenn er unter die Menschen geschickt wird, wird Rafael daran erinnert, welch große Bürde sie an ihrer Sterblichkeit zu tragen haben. Er kann sie spüren, die Angst vor der Vergänglichkeit, die rastlose Suche nach Glück, das Bedauern, vergangene Fehler nicht wieder gutmachen zu können, das Bestreben, wenigstens einen Zipfel von Unsterblichkeit zu hinterlassen. All das pulsiert in ihren Adern genauso wie das Blut und Rafael bemitleidet die Menschen dafür. Seit Jahrtausenden hat er mit diesen Geschöpfen zu tun, und noch immer ist er fasziniert von ihrer grenzenlosen Fähigkeit zu lieben, zu hassen, zu verzweifeln, wieder Mut zu schöpfen und mit ihrem unbändigen Lebenswillen über ihre Möglichkeiten hinauszuwachsen. Warum sie nicht verstehen, dass erst das Wissen um ihre Sterblichkeit sie zu all diesen Dingen befähigt, wird er allerdings wohl nie begreifen.
Manchmal, wenn sie so offensichtlich blind gegenüber ihrem Schicksal mit sich selbst und anderen Menschen hadern, möchte er sie am liebsten schütteln und wachrütteln, ihnen zurufen, dass sie ihre Chancen nicht verpassen sollen – aber das steht ihm nicht zu. Nur hin und wieder erhält er die Erlaubnis einzugreifen, so wie bei Finn und Marco, bei denen es so offensichtlich ist, dass sie füreinander bestimmt sind. Und selbst dann darf er eigentlich nur indirekt Einfluss nehmen, diskret und unauffällig. Dass er bei diesen beiden auf einem schmalen Grat wandert, hat er von Anfang an gewusst. Seinem eigenen Temperament – gut, auch seinem eigenen Verlangen, Rafael verdreht die Augen; er wird nicht gerne von höherer Stelle an seine eigenen Fehlbarkeiten erinnert – hat er es zuzuschreiben, dass seine Mission ein paar Mal auf der Kippe stand. Das ist eben der Unterschied zwischen einem Engel und dem Allmächtigen. Er, Rafael, ist nicht unfehlbar. Er hat einfach nicht vorausgesehen, dass Marco sich in ihn verlieben könnte. Und er hat nicht vorausgesehen, wie bockig die beiden Männer sind, wie tief die Verletzungen liegen, die sie sich gegenseitig zugefügt haben.
Rafael seufzt. Der letzte Gedankengang hat ihn wieder in die Gegenwart zurückgerufen, besser gesagt, in Marcos Traum … diese Arbeit auf mehreren metaphysischen Ebenen bringt selbst ihn ganz durcheinander. Es ist, als jonglierte er zu viele Bälle gleichzeitig. Ständig muss man aufpassen, nicht die Übersicht zu verlieren. Jedenfalls hat er noch eine ganze Menge zu tun, bevor er sich entspannt zurücklehnen kann. Vor allem muss er endlich herausbekommen, was zwischen den beiden vorgefallen ist. Aber eins nach dem anderen. Es sind erst noch ein paar Vorbereitungen für das Happy-End zu treffen – wenn es eines geben wird, denn letztlich kann er nur den Weg weisen. Den Rest müssen die beiden selber machen.
„Ist es noch weit?“ fragt er Finn, der schweigend neben ihm durch den Schnee stapft.
„Da drüben!“ Finn zeigt auf den Beginn des kleinen Tannenwaldes etwa fünfhundert Meter vor ihnen und wischt mit dem Ärmel einen Tropfen Wasser ab, der an seiner Nasenspitze hängt. „Sag bloß, du machst schon schlapp?“
„Tue ich nicht!“ erwidert Rafael und geht demonstrativ einen Schritt schneller.
Jetzt ist es Finn, der grinsen muss. „Gut!“ sagt er und fügt ironisch hinzu: „Es ist doch viel lustiger, einen Baum selber zu schlagen, oder?“
Im Wald nimmt das durch das Schneegestöber sowieso schon fahle Tageslicht weiter ab und Finns und Rafaels Augen brauchen eine Weile, bis sie sich an das Zwielicht gewöhnt haben. Ihre Blicke wandern kritisch zwischen den verschneiten Bäumen hin und her.
„Der hier!“ sagt Finn und klopft an den Stamm einer Tanne.
Rafael schnaubt herablassend. „Zu klein“, sagt er.
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