Und dann der Himmel
vor die Nase, als wollte er den Engel exorzieren. „Niemand kann sich anmaßen, den Richterspruch des Herrn vorwegzunehmen! Verlassen Sie sofort den Friedhof! Was glauben Sie, wer Sie sind?“ Er springt auf Rafael zu und es sieht so aus, als ob er handgreiflich werden wollte.
Ohne zu überlegen, laufe ich nach vorne und will Rafael zur Seite stehen, mich notfalls dazwischenwerfen.
„Lass Rafael gefälligst in Ruhe!“ brülle ich den Priester an und balle die Fäuste. In meinem Hinterkopf meldet sich eine kleine, gehässige Stimme, die mir sagt, dass ich wohl auch nicht mehr alle Tassen im Schrank habe, immerhin hat sich der Engel selbst in diese Lage gebracht, aber ich zwinge mich, sie zu überhören.
Rafael hält mich jedoch mit einer Handbewegung und einem beschwichtigenden Lächeln zurück. „Wer ich bin?“ fragt er den Priester, aber es ist nur eine rhetorische Frage, mit der er den nächsten Schritt seiner Vorstellung einleiten will.
Der Wind heult um unsere Ohren und ich schüttele heftig den Kopf in Rafaels Richtung, denn ich weiß genau, was jetzt geschehen wird, aber ich kann den Lauf der Dinge nicht aufhalten.
Rafael sieht den jungen Priester mitleidig an, der nichts davon ahnt, was ihm bevorsteht, und sagt schließlich mit einem ironischen Unterton: „Ich bin Rafael, der Erzengel Gottes, Schätzchen!“ und im selben Moment fährt eine neuerliche Windböe unter Rafaels Mantel, streift ihn von seinen Schultern und wirbelt ihn in der Luft umher, bis er in einem der Äste der nahe stehenden Bäume hängen bleibt. Einige Sekunden ist es totenstill, nur der pfeifende Wind ist zu hören, das Rascheln des Laubs und das überraschte Keuchen des alten Mannes im Rollstuhl. Da steht Rafael, bekleidet mit meiner zerrissenen Jeans und ausgelatschten Turnschuhen und mit freiem Oberkörper. Für einen Moment kommt er mir einsam und verletzlich vor und ich habe das übermächtige Bedürfnis, ihn zu beschützen, aber dann bleiben meine Augen und die aller anderen wie hypnotisiert an Rafaels Flügeln hängen, die nun für jedermann sichtbar sind. Sie haben ihre endgültige Größe erlangt und reichen dem Engel nun von seinen Schultern bis zu seinen Oberschenkeln.
Als ob er den Anspruch auf seinen himmlischen Ursprung und die Wahrhaftigkeit seiner Worte unterstreichen wolle, breitet Rafael seine Schwingen aus und ihre Spannbreite übertrifft die Länge meiner ausgestreckten Arme. Ich vergesse für einen Augenblick den anderen Rafael, den ich so gut zu kennen glaube, der alles durcheinander bringt und von einem Fettnapf in den nächsten wankt, und ich vergesse auch den Rafael, in den ich verliebt zu sein glaubte, der in meine Träume eindringt und mein Leben ändern will. Ich sehe nur die mächtigen Flügel, deren silberne und weiße Federn sich im Wind bewegen und Rafael eine Majestät verleihen, die ich noch nie an ihm bemerkt habe. Ich komme mir klein und unbedeutend vor. So ähnlich muss sich Maria gefühlt haben, als ihr von Rafaels ungeliebtem Arbeitskollegen die Geburt ihres Sohnes verkündet worden ist. Und dann ist da auch plötzlich wieder dieses Licht, das ich schon einmal zu Beginn unserer Bekanntschaft gesehen habe, das von innen zu strahlen beginnt und Rafaels Körper nach und nach völlig einhüllt und so hell wird, dass ich meine Augen abwenden muss.
„Voll krass!“ entfährt es dem Zivi. „Hyper-mega-abgefahren!“
Der Priester torkelt ein paar Schritte zurück, als wäre er vom Blitz getroffen worden, und eine der älteren Frauen sackt mit einem leisen Seufzer ohnmächtig in sich zusammen. Nur meine Mutter scheint einen klaren Kopf zu bewahren.
„Tu was!“ raunt sie mir ins Ohr. „Bring Rafael zur Vernunft!“
Aber ich brauche mir keine Mühe zu geben. Eine andere Macht und vielleicht auch eine höhere als die des Engels sorgt in diesem Moment dafür, dass wir alle auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. Das gleißende Licht vergeht so schnell wie ein verlöschendes Glühwürmchen und dann steht wieder nur Rafael vor uns. Der Wind dagegen hat nun endgültig Sturmstärke erreicht und fährt plötzlich mit voller Wucht in Rafaels noch immer ausgebreitete Flügel. Mit aller Macht pflügt er durch die Federn und wütet wie in den aufgepeitschten Wellen eines Ozeans, als wollte er den Engel für seine Anmaßung bestrafen. Rafael, dieses eine Mal genauso überrascht wie wir und mit einem erstaunten Ausdruck im Gesicht, hat der Kraft des Windes nichts entgegenzusetzen, fängt an zu
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