Und dann der Himmel
Es ist die Firma, für die ich Werbespots spreche.
„O nein“, flüstere ich. Es kann nur eine schlechte Nachricht sein, denn gute Nachrichten, wie etwa ein neuer Auftrag, werden ausschließlich telefonisch mitgeteilt. Ich starre das Kuvert an und gebe es dann mit zitternden Händen an Rafael zurück. „Noch eine Hiobsbotschaft verkrafte ich nicht. Ich kann das jetzt nicht aufmachen. Mach du das. Lies es mir einfach vor.“
Rafael öffnet den Brief umständlich und raschelt wichtigtuerisch mit dem Papier. „‚Sehr geehrter Herr Hollweger‘“, fängt er an, „ … bla bla bla … Umstrukturierungen im Betrieb … allgemeine schlechte Auftragslage … bla bla bla … ‚bedauern wir, Ihnen mitteilen zu müssen, in absehbarer Zeit Ihre Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen zu können. Für die Zukunft wünschen wir Ihnen alles erdenklich Gute. Hochachtungsvoll‘ … bla bla bla.”
Ich glotze Rafael ungläubig an. „Du willst mich verarschen!“ sage ich.
Rafael schüttelt den Kopf. Ich reiße ihm den Brief aus der Hand und überfliege den Text. Aber es stimmt: Ich habe innerhalb von fünf Minuten meine beiden Jobs verloren. Ich bin pleite. Man hat meine Existenzgrundlage zerstört. Ich muss ins Armenhaus ziehen, falls es so etwas überhaupt noch gibt, und von der Mildtätigkeit fremder Menschen leben.
„Und was mache ich jetzt?“ frage ich hilflos. Mein Schädel brummt und fühlt sich vollkommen leer an. Einen klaren Gedanken zu fassen, gelingt mir nicht. Wahrscheinlich habe ich einen Schock.
Rafael tätschelt beruhigend meine Hand. „Die Frage ist, was machen wir jetzt!“ korrigiert er mich. „Ich lasse dich doch jetzt nicht im Stich. Wir stehen das gemeinsam durch. Sieht so aus, als hättest du den Himmel genau zum richtigen Zeitpunkt um Hilfe gebeten. Verlass dich einfach auf mich, und alles wird gut werden.“
Angesichts der Dinge, die passiert sind, seit Rafael sich in mein Leben eingemischt hat, bin ich mir nicht sicher, ob ich die Zuversicht des Engels teilen kann, aber andererseits bin ich nicht in der Verfassung, diese unerwartete Krise allein zu bewältigen. Am liebsten würde ich mich an seine Schulter lehnen und mich mal richtig ausheulen. Und irgendwie ist es ja auch nett, dass Rafael versucht, mir Mut zu machen.
„Na schön“, seufze ich und widerstehe schweren Herzens der Versuchung, in einem See von Selbstmitleid zu versinken. „Was also machen wir jetzt?“
„Urlaub!“ sagt Rafael und strahlt mich an. Sein Zeigefinger deutet auf den Brief mit den Geldscheinen. „Wir machen Urlaub.“
„Urlaub?“ frage ich aufgebracht. „Bist du noch ganz dicht?“
Aber Rafael ist mit seinen Gedanken schon wieder woanders. Mit konzentrierter Miene studiert er die Speisekarte vor sich auf dem Tisch. „Meinst du, man kann das amerikanische Frühstück auch mit einer doppelten Portion Speck bekommen?“
3. Das Verhalten betrunkener Himmelsbewohner am Glühweinstand
Der Himmel ist dunkel und wolkenverhangen. Obwohl es gerade erst Mittag ist, wird der Tag nur durch ein diffuses, graues Licht erhellt. Nebel ist aufgezogen und die Autos schalten ihre Scheinwerfer an. Die Geräusche des Verkehrs dringen gedämpft an meine Ohren, wie in Watte gepackt. Nur wenn ein Auto direkt an mir vorbeifährt, schrecke ich zusammen. Dann klingen die Reifen auf der nassen Straße wie reißendes Papier.
Regentropfen trommeln auf den Asphalt und verwandeln den schmalen Parkweg, auf den ich abbiege, schnell in einen schmierigen Morast. Bei jedem Schritt spritzt der Dreck an meinen Hosenbeinen hoch. Bäume wiegen sich im aufkommenden Wind und von ihren kahlen Ästen perlt Wasser in den Kragen meiner Jacke. Winterwetter.
Ich stapfe allein durch den Regen, mit zusammengezogenen Schultern und hängendem Kopf. Ich brauche ein paar Minuten für mich, um die schlechten Nachrichten des Morgens zu verdauen. Mir war danach, meine aufkommende Depression zu pflegen und ein bisschen in Selbstmitleid zu zerfließen. Deshalb habe ich nach unserem misslungenen Frühstück Rafael mit Adolf im Schlepptau unwirsch nach Hause geschickt. Soll er doch Anja, Lars und Patrick selber erklären, dass sie jetzt mit einer riesigen Dogge zusammenleben müssen. Vielleicht ist er ja wenigstens dazu in der Lage.
In meinen Augen hat Rafael als Beschützer und Helfer hoffnungslos versagt. Anstatt seine Aufgabe ernst zu nehmen, schickt er sich an, wie ein Wirbelwind durch mein Leben zu fegen und alles durcheinanderzubringen. Seit seinem
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