Und dann der Himmel
„Weihnachten, das Fest der Liebe“, fügt er mit einem feierlichen Glanz in den Augen hinzu, „das wichtigste Ereignis der Weltgeschichte seit über zweitausend Jahren!“
Niemand hat Lust, auf Rafaels Aussage zu reagieren, obwohl wir teilweise durchaus anderer Meinung sind. Ich zum Beispiel glaube, dass die Einführung des Fernsehens mindestens genauso revolutionär war, und Lars hält mit Sicherheit die Erfindung des Bikinis für erheblich wichtiger. Abgesehen davon scheint mir Weihnachten doch auch eher ein ausschließlich christliches Phänomen zu sein. Chinesen und Moslems sind an der alljährlichen Geburtstagsparty für einen jüdischen Zimmermannssohn wohl nicht so interessiert. Aber diese Ansichten laut auszusprechen hieße, sich mit Rafael auf ein stundenlanges Streitgespräch einzulassen. Auch wenn es nach seinen Erzählungen in den himmlischen Sphären erheblich unkonventioneller zugeht, als sich das bisher jemand von uns vorstellen konnte, so hat Rafael doch keinen Zweifel daran gelassen, dass der Himmel für ihn eine genauso unumstößliche Realität darstellt wie für uns Menschen die Erde. Er denkt gar nicht daran, unsere Zweifel an seinen Geschichten ernst zu nehmen, und die Unvereinbarkeit seiner Darstellungen mit dem, was Lars, Patrick, Anja und ich an dürftigem Wissen über Religion aus den hintersten Winkeln unserer Erinnerung hervorkramen können, ist Rafael egal. Alles sei so, wie er sage, behauptet er stur und mit einer gewissen Selbstzufriedenheit, und unsere Informationen beruhten auf falsch verstandenen mündlichen Überlieferungen und bewusster Geschichtsfälschung zum Zwecke des Machterhalts der jeweils herrschenden Klasse.
„Auch der Kirche?“ habe ich noch heute Morgen nachgefragt, nachdem wir die Polizisten abgewimmelt hatten.
„Ach, die Kirche!“ hat Rafael geseufzt, als hätten wir ein Thema berührt, das ihm unangenehm ist. „Denk nur an die Inquisition“, hat er dann erklärt. „Erpressung, Folter, Mord und Intoleranz. Mit Sicherheit nicht von dem Gott der Liebe sanktioniert, den ich kenne. Stattdessen die Erfindung einer verkommenen, unmoralischen, herrschenden Kaste, um ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen zu wahren.“
„Die Kirche als machtgierige Institution? Klingt irgendwie sozialistisch“, habe ich zögernd eingewendet und nach einer Pause neugierig hinzugefügt: „Gibt es eigentlich Kommunisten im Himmel?“
„Eine“, hat Rafael vertraulich geflüstert, als handelte es sich dabei um ein etwas peinliches Geheimnis, das er lieber unter den Teppich kehren würde. „Rosa Luxemburg. Das Thema ist ein bisschen heikel, weil Kommunisten ja auch meist als Atheisten gelten. Aber wir haben Rosa nach einigen hitzigen Debatten aufgenommen, um die Quote zu erfüllen. Sie hatte zumindest den Vorteil, einen wunderschönen Märtyrertod gestorben zu sein. Aber mittlerweile gesteht sich selbst der Allmächtige ein, dass es vielleicht ein Fehler war – vor allen Dingen, seitdem sich Rosa in die linke Ecke des Himmels zurückgezogen hat und den zuständigen Engelsausschuss mit Eingaben bombardiert, um für die angeblich völlig überlasteten Heiligen die 35-Stunden-Woche durchzusetzen. Die Anzahl der politischen Pamphlete, die sie in einer Woche produziert, ist wirklich unglaublich. Und dann hat sie es sich auch noch in den Kopf gesetzt, einen Betriebsrat zu gründen. Könnt ihr euch das vorstellen? Ein Arbeitnehmervertreter, der zur Rechten Gottes sitzt und ein Mitspracherecht bei allen göttlichen Schiedssprüchen einfordert! Der Allmächtige ist außer sich.“
Ich hätte nicht fragen sollen.
„Aber war Rosa Luxemburg nicht jüdisch?“ hat sich Anja eingemischt. „Ich meine, spielt es denn keine Rolle, welchen Glauben man hat, wenn darüber entschieden wird, ob man in den Himmel kommt?“
Rafael hat entrüstet den Kopf geschüttelt. „Juden, Buddhisten, Moslems, Hindus – letztendlich ist das alles eins.“
„Im Tode vereint sich die Menschheit zu einer großen, glücklichen Familie!“ hat Patrick spöttisch erwidert. Man hat ihm angesehen, das ihm die ständigen Gespräche über Religion langsam auf die Nerven fallen.
Lars beißt in eine Käsestulle. „Weihnachten feiern?“ nuschelt er mit vollem Mund, ohne die Augen vom Fernseher zu wenden, weil Samantha gerade einen Aktienhändler nackt ans Bett fesselt. „Wie denn?“
„Ich dachte an einen geschmückten Tannenbaum und ein nettes Essen“, sage ich. „Anja könnte morgen ein paar
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