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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Nerven.“
    Ich drehe das Fenster hoch und dann tritt Rafael erneut aufs Gas. Die anderen winken uns nach, als wir durch die Hofeinfahrt auf die Straße fahren. Im Rückfenster verschwimmen ihre Gesichter und ihre Gestalten verlaufen wie die Farben eines Aquarells. Wenn Rafael nicht neben mir sitzen würde, käme ich mir auf einmal sehr einsam vor.
    Wir haben uns nicht das beste Wetter für unsere Reise ausgesucht. Der Himmel zieht sich zu und kurz darauf verschmiert Schneeregen die Windschutzscheibe, lässt die Straßenränder in einem dunklen Grau versinken. Schon nach wenigen hundert Metern stecken wir auf einer der Hauptausfallstraßen im Stau fest und es dauert eine gute halbe Stunde, bis wir die Stadtgrenze hinter uns gelassen haben. Dann breitet sich der eintönige, schwarze Asphalt der Autobahn vor uns aus, nur durchbrochen von weißen Spurstreifen, ein paar verkümmerten Gräsern und Büschen sowie betonfarbenen Schallschutzwänden, wenn wir in der Nähe von Siedlungen vorbeifahren. Mir ist kalt und ich drehe vorsichtig die Heizung auf; sofort beginnt es nach vergammeltem Kabeljau zu riechen. Ich schalte den Regler wieder herunter und vergrabe mich so tief wie möglich in meiner Winterjacke. Adolf hat die Schnauze zwischen seinen Pfoten versteckt und döst, Fridolin hat sich in sein Hamsterhäuschen zurückgezogen und auch Rafael ist merkwürdig still, während er das Auto lenkt.
    Das monotone Fahrgeräusch und das Klacken der Scheibenwischer machen mich auch schläfrig. Der Wind presst den Schneeregen in dünnen Schlieren an das Seitenfenster. Hin und wieder perlt ein Tropfen Wasser durch eine schmale, undichte Stelle nach innen und rinnt wie eine Träne an der Tür herunter.
    Meine Gedanken beginnen zu wandern und bleiben am gestrigen Abend hängen, am Geschmack von Rafaels Haut auf meinen Lippen, seinem leisen, selbstvergessenen Stöhnen in meinem Ohr, meinen forschenden Händen auf seinen Pobacken. All das kommt mir noch immer unwirklich vor, auch wenn ich weiß, dass es tatsächlich geschehen ist. Habe ich ihn wirklich gespürt? Haben meine Finger wirklich diese Stelle direkt unter seinem Bauchnabel gefunden, bei deren Berührung er die Augen verdreht hat? Haben wir wirklich miteinander geschlafen?
    Meine schlechte Laune ist auf einmal wie weggeblasen und mir wird ganz warm. Sogar der stärker werdende Regen ist mir gleichgültig. Ich spüre eine unbeschreibliche Leichtigkeit, als ob meine Füße zehn Zentimeter über dem Boden schweben würden. Nicht einmal der beste Joint der Welt kann so etwas hervorrufen, und trotzdem kenne ich dieses Gefühl: Ein verwirrtes Lächeln huscht über mein Gesicht und stiehlt sich in meine Mundwinkel. Ich habe mich tatsächlich verliebt.
    Natürlich habe ich mir wieder einen Mann ausgesucht, mit dem eine Beziehung keinerlei Zukunftsaussichten hat, den ich genauso wenig an mich binden kann wie alle anderen davor. Typisch für mich, aber im Moment verdränge ich diese Kleinigkeit und rede mir ein, dass es mir nichts ausmacht. Wenigstens für die nächsten Tage habe ich Rafael nur für mich und solange werde ich es genießen, zu jemandem zu gehören – etwas, das ich seit Finn sehr vermisst habe. Ich fühle mich plötzlich sicher und geborgen. Verstohlen ziehe ich die Kapuze des Anoraks über den Kopf, damit Rafael nicht sieht, was in mir vorgeht. Doch dann kann ich meine Gefühle nicht länger verbergen und kraule mit meiner linken Hand Rafaels Nacken, fahre mit meinen Fingern durch seine dunklen Haare und meine Sehnsucht, mich in seiner Umarmung zu verkriechen, wird fast unerträglich. Dabei strahle ich wie ein kleines Kind, das gerade eine Schokoladentorte geschenkt bekommen hat, die es ganz allein aufessen darf.
    „Geht’s dir gut?“ fragt Rafael, ohne die Augen von der Fahrbahn zu nehmen. Er grinst und reibt seinen Hinterkopf an meiner Hand.
    Ich nicke wortlos. „Ich liebe dich“, füge ich dann leise hinzu und warte darauf, dass er mir gesteht, wie sehr er meine Gefühle erwidert. Die letzte Nacht muss doch auch bei ihm Spuren hinterlassen haben.
    Aber Rafael schüttelt erneut den Kopf. „Ich bin ein Engel“, antwortet er abwehrend, als ob das einen Einfluss auf meine Empfindungen haben könnte. „In fünf … nein, in vier Tagen werde ich dich verlassen.“
    „Das ist mir egal“, erkläre ich trotzig und füge überschwänglich hinzu: „Vielleicht kann ich dich ja zum Bleiben überreden.“ Wenn es möglich ist, dass ein wahrhaftiger Engel meinen Weg

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