Und dann der Himmel
umsieht.
Ich denke gar nicht daran, nach dem Köder zu schnappen. Er will nur wieder eine seiner absurden Anekdoten loswerden. Lieber steige ich aus und begrüße meine Nichte, die mir mit ausgestreckten Ärmchen und wackeligen Beinen entgegentorkelt.
„Dada!“ sagt Annika und quietscht beglückt. Dabei fällt ihr der Schnuller aus dem Mund und landet im Matsch. Annika bückt sich ungelenk und steckt ihn wieder zwischen ihre Lippen. Kinder sind ekelig.
„Nein, nicht Dada. Marco!“ stelle ich richtig. „Dada sitzt wahrscheinlich im Büro und versucht, das Finanzamt auszutricksen.“ Um keinen Preis will ich das sabbernde und anscheinend mit Möhrenbrei vollgekleckerte Blag auf den Arm nehmen und ihm womöglich noch einen Kuss geben müssen. Außerdem habe ich mal gelesen, dass man Kinder ernst nehmen und so früh wie möglich wie ebenbürtige Partner behandeln soll. Das fördere ihre Entwicklung. Also beschließe ich, Annika meine pädagogischen Kenntnisse zugute kommen zu lassen. Ein zweijähriger Hosenscheißer, dem die Pampers auf den Knien hängt und der mit O-Beinen durch die Gegend watschelt, hat einen Entwicklungssprung weiß Gott nötig. Ich beuge mich zu meiner Nichte herunter und reiche ihr freundlich, aber etwas distanziert die Hand, so als wären wir Nachbarn im selben Haus und hätten uns zufällig im Fahrstuhl getroffen. Doch Annika ist natürlich nicht in der Lage, diese Aufwertung ihrer unterentwickelten Persönlichkeitsstruktur zu schätzen. Sie betrachtet meine Finger und sieht mich hilfesuchend an, dann kräht sie plötzlich auf, als hätte sie begriffen, was ich von ihr will, und vergräbt ihre kleinen Fäuste in meiner Hand. Ich spüre, dass sich etwas Klebrig-Glitschiges auf meiner Handfläche verteilt.
„Oh“, entschuldigt sich die junge Frau, die meine Nichte beaufsichtigt, „ excusez-moi . Das Kind ’at gerade seine Brei gegessen.“ Interessiert mustert sie meine schmutzige Stirnbinde. „Oh lala! ’aben Sie ge’abt accident ? Sie brauchen einen Arzt, n’est-ce pas ?“
Abwehrend schüttele ich den Kopf und wische meine verschmierten Hände an einem Tempo ab. „Ich bin Marco, Sabines Bruder und das da ist Rafael, ein Freund.“ Rafael quittiert meine kleine Notlüge mit hochgezogenen Augenbrauen, aber ich sehe keinen Grund, diesem Mädchen zu erklären, dass er eigentlich ein Engel ist. Die Wahrheit hat mir in den letzten Tagen nur Scherereien eingebracht.
„Ah! ’erzlisch willkommen! Isch bin Colette, das Aupair-Mädschen. Isch komme aus Frankreisch.“
Ach, wirklich! denke ich. Der Akzent ist ja kaum zu hören! Laut sage ich: „Ist meine Schwester da?“
Colette verneint bedauernd. „Es ist niemand da. Klaus … pardon, ’err ’ollweger ’at Termine. Er wird erst ’eute Abend zurück sein und Frau ’ollweger ist bei die Tieren mit großen ’örnern und dickem Fell.“
„Bei was für Tieren?“
„Heidschnucken! Ich züchte jetzt Heidschnucken!“ antwortet Sabine laut, während sie um die Ecke des Hauses biegt und auf uns zukommt.
„Ich dachte, du machst auf Biogemüse! Was um alles in der Welt sind Heidschnucken?“ frage ich verständnislos, während Sabine mich umarmt und Rafael etwas zögernd und mit einem Stirnrunzeln die Hand schüttelt. Meine Schwester trägt einen beige-farbenen Arbeitsoverall und riecht nach Heu und muffiger Wolle. Ein krasser Gegensatz zu den etwas zickigen Strenesse -Kostümen und den teuren Parfums, die sie während ihrer Zeit an der Börse bevorzugt hat.
„Eine Schafart mit großen Hörnern und dickem Fell“, wiederholt Sabine Colettes Worte. „Sehr ertragreich und vor allen Dingen wird die Haltung aus ökologischen Gründen vom Land subventioniert. Was willst du hier, Marco? Du kommst nie unangemeldet und erst recht nicht freiwillig. Und was ist mit deinem Kopf passiert?“
„Ich bin auf einer Art Zwangsurlaub und wir hatten einen kleinen Unfall. Nichts Ernstes. Mach dir keine Sorgen“, erwidere ich genauso direkt.
Meine Schwester schnaubt belustigt auf. „Ich mach mir keine Sorgen, aber was meinst du mit Zwangsurlaub? Bist du gefeuert worden?“
Ich seufze. „Du hast es erfasst.“
„Darum bist du also hier“, sagt Sabine und Ärger umspielt ihren Mundwinkel, „du willst mich anpumpen.“
„Will ich nicht!“ sage ich empört, auch wenn mir der Gedanke gar nicht unsympathisch ist. Wieso bin ich noch nicht selber auf die Idee gekommen? Dann stutze ich. Zwar standen wir uns noch nie besonders nahe, aber die
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