Und dann der Himmel
ist immer alles perfekt.“
„Na, das sehen wir ja dann!“ erwidert Rafael.
„Wie bitte?“ Ich sehe Rafael entgeistert an. „Die erste Station unseres Urlaubs ist meine Schwester?“
Rafael schmunzelt. „Wie viele Frauen in deinem Bekanntenkreis haben denn sonst diesen Vornamen?“
„Keine“, murmele ich dumpf und habe das grauenvolle Gefühl, dass Rafael mich nicht zu einem Erholungsurlaub überredet hat, sondern auf einen Horrortrip mitschleift.
Ich rede nicht gerne über meine Schwester. Und noch weniger gern besuche ich sie, auch wenn sie nur ein paar Stunden Autofahrt von mir entfernt wohnt, in der Lüneburger Heide. Sabine löst in mir einen permanenten Minderwertigkeitskomplex aus. Sie ist um einiges älter als ich, und alles, was sie anfasst, scheint ihr zu gelingen. Mehr als das: Bei allem, was sie sich vornimmt, hat sie Erfolg und übertrifft die in sie gesetzten Erwartungen. Als Kind bekam ich ständig zu hören: „Warum bist du nicht so wie deine Schwester? Die weiß wenigstens, was sie will!“ Sabine war schneller aus den Windeln als ich, sie konnte früher laufen und sie konnte früher „Mama“ sagen. Das Abitur machte sie als Jahrgangsbeste, anschließend absolvierte sie in Rekordzeit und mit Auszeichnung ein Betriebswirtschaftsstudium, um dann mit fünfundzwanzig Jahren als Broker an der Frankfurter Börse das Geld geradezu zu scheffeln. Sie hat in zehn Jahren mehr verdient, als ich wahrscheinlich in meinem ganzen Leben sehen werde. Währenddessen entschied sie plötzlich, dass sie genug gearbeitet habe, heiratete ihren Freund, einen anerkannten und geschäftstüchtigen Steuerfachmann, setzte zwei Kinder in die Welt und zog sich mit ihrer Vorzeige-Familie auf einen Bauernhof zurück, wo sie jetzt sehr erfolgreich und ganz nebenbei Biogemüse anbaut. Es ist nicht zum Aushalten.
Aber damit nicht genug. Schon als wir klein waren, bereitete es Sabine ein diebisches Vergnügen, mich mit ihren Erfolgen einzuschüchtern, und über die Jahre hat sie ein nahezu perfektes System entwickelt, mir meine Unzulänglichkeit unter die Nase zu reiben. Als sie noch an der Börse Aktien verscherbelte und dabei wahrscheinlich Dutzende Kleinanleger kaltblütig in den finanziellen Ruin riss, erkundigte sie sich bei jedem unserer Telefonate scheinbar interessiert und teilnahmsvoll nach meinem Leben, ließ mich über die Würdelosigkeit lamentieren, die ein Job als die Stimme einer tanzenden Obstkonserve mit sich bringt, um anschließend von einem sechsstelligen Auftrag zu berichten, den sie ihrem Unternehmen verschafft hatte, und der Schwindel erregenden Provision, die ihr zustand. Als sie bemerkte, dass ich mich immer seltener bei ihr meldete und auch bei ihren Anrufen relativ einsilbig war, landete Sabine dann ihren größten Coup: Sie machte mich zum Patenonkel von Simon, ihrem ersten Kind. Seitdem bin ich gezwungen, sie und ihre Bilderbuchfamilie auf dem Bilderbuchbauernhof in der Bilderbuchidylle zwei- bis dreimal im Jahr zu besuchen, meist zu ihrem Geburtstag im Frühjahr und Simons Geburtstag im Herbst, und Sabine hat ausreichend Gelegenheit, mir zu zeigen, was für eine Niete ich bin. Beim letzten Besuch vor zwei Monaten hatte mir mein Schwager vor einem prasselnden Kaminfeuer genüsslich vorgerechnet, wie viel beziehungsweise wie wenig Rente ich zu erwarten hätte, wenn ich beruflich so weiter mache wie bisher, und meine Schwester hatte den Tag gekrönt, als sie mir erzählte, dass das Umweltministerium ihren Hof mit einem Öko-Umweltsiegel ausgezeichnet und der Minister ihr persönlich gratuliert habe.
„Sabine wird sich bestimmt freuen, dich zu sehen!“ sagt Rafael, während er haarscharf an einem Ford Fiesta vorbeizieht und ein wütendes Hupkonzert erntet. Automatisch krallen sich meine Finger in das Sitzpolster. Aber nach meinem Aussetzer von vorhin weise ich Rafael wohl besser nicht auf seine Unzulänglichkeiten als Autofahrer hin.
„Klar“, erwidere ich stattdessen. „Sie hat ja sonst niemanden, den sie fertig machen kann. Das stärkt bestimmt ihr Selbstbewusstsein.“
„Ich verstehe nicht, wieso du so schlecht auf sie zu sprechen bist. Immerhin seid ihr Bruder und Schwester.“
Erst will ich höhnisch aufschnauben, aber dann bin ich still. Es dauert eine Weile, bis ich mich zu einer Antwort durchringen kann. „Sie hat alles“, sage ich schließlich leise.
„Und du hast nichts?“ Rafael wirft mir einen kurzen Seitenblick zu und runzelt die Stirn. „Das glaubst du wirklich,
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