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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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erwähnt, es macht nicht viel Sinn zu lügen“, sagt Rafael schulterzuckend.
    Stockend setze ich zu einer langwierigen und umständlichen Erklärung an, doch genauso wenig wie meine Mitbewohner glaubt mir meine Schwester, dass er ein Engel ist. Aber diesmal habe ich die Flügel als Beleg, auch wenn Sabine sie erst für eine clevere Attrappe aus Pappmaché hält. Wie ich braucht sie einen handfesten Beweis, um ihre Zweifel aufzugeben. Wieder einmal wird mir bewusst, dass wir trotz unserer Unterschiedlichkeit Geschwister sind, zwei Äpfel vom selben Stamm.
    „In Afrika verhungern Millionen von Menschen, die Welt wird von Terroristen bedroht, wir stehen am Rande einer Klimakatastrophe und Gott betraut einen schwulen Engel mit der Aufgabe, ausgerechnet meinen Bruder zu missionieren?“ bezweifelt sie meine Ausführungen. „Hat er keine sinnvolleren Aufgaben zu verteilen?“
    Erst als Rafael Sabine seine Flügel berühren lässt, scheint sie meiner Geschichte ein wenig Glauben zu schenken. Zögernd fahren ihre Finger über die Knorpel, die aus Rafaels Rücken wachsen, und streichen sanft über die Federn, überzeugt ist sie jedoch noch lange nicht. Und sie wäre nicht meine Schwester, wenn sie nicht versuchen würde, ihre Unsicherheit hinter einer Maske aus Spott und Angriffslust zu verbergen. „Besonders beeindruckend sind die Dinger ja nicht!“ sagt sie. „Ich habe mir Flügel von einem richtigen Engel immer irgendwie größer und beeindruckender vorgestellt. Die hier erinnern mich eher an die mickrigen Aufsätze von diesen pummeligen, kleinen Engelsputten in einem Barockgemälde!“
    Jetzt ist es an Rafael, sprachlos zu sein. So respektlos hat ihn wahrscheinlich seit Jahrhunderten niemand mehr angemacht. Betreten senkt er den Blick und murmelt: „Sie werden ja noch wachsen.“ Fast könnte man glauben, er schäme sich.
    Aber Sabine ist noch nicht fertig. „Flieg mal ’ne Runde!“ sagt sie zu Rafael und sieht ihn herausfordernd an. „Da, bis zu dem Baum und zurück!“ Ihr Finger zeigt auf eine knorrige, alte Kiefer in einiger Entfernung.
    Doch Rafael hat sich wieder gefangen. Er schüttelt den Kopf und lächelt. „Ich bin nicht geschickt worden, um Beweise meiner Existenz abzuliefern“, erwidert er sanft. „Ich bin gekommen, um zu helfen. Allerdings kann ich nur dem helfen, der an mich glaubt.“
    „Ha!“ sagt meine Schwester. „Und Marco glaubt an Engel?“ Dann wirbelt sie zu mir herum und sieht mich anklagend an. „Du glaubst an Engel?“ wiederholt sie fassungslos.
    „Ich … ich glaube an Rafael“, stottere ich verlegen und werde rot.
    „Wird ja immer besser“, murmelt Sabine, aber ich habe das Gefühl, dass das Eis gebrochen ist. Zumindest hat sie keine Lust, sich auf weitere Diskussionen einzulassen. „Also schön“, sagt sie nach einer Weile, „von mir aus ist er ein Engel. Kann mir ja eigentlich auch egal sein, mit welchen Typen du dich einlässt. Ich wasche meine Hände in Unschuld so wie dieser Dingsbums …“
    „Pontius Pilatus“, erwidern Rafael und ich im Chor.
    „Richtig. Wie auch immer.“
    Ich pfeife nach Adolf und zusammen machen wir uns alle zurück auf den Weg ins Haus.
    „Nur mal so interessehalber“, fragt meine Schwester, während wir nebeneinander herschlendern, „was ist eigentlich aus diesem Pontius Pilatus geworden?“
    „Gott hat ihm natürlich vergeben“, sagt Rafael leichthin und wirft einen Stock durch die Landschaft, den Adolf freudestrahlend apportiert. „Seitdem er von seinem Waschzwang geheilt wurde, kontrolliert er die himmlischen Badeanstalten auf ihre hygienischen Zustände.“
    Ich wünschte, ich hätte ein Beißholz bei mir, und meine Schwester tippt sich an die Stirn.
    Kurz bevor wir an der Haustür angelangt sind, wirft Sabine Rafael ihre Jacke über den Rücken und dreht sich drohend zu uns um. „Kein Wort darüber zu den Kindern“, sagt sie. „Ich will nicht, dass sie mit Engeln und ähnlichem esoterischen Unfug konfrontiert werden! Das kostet mich später mindestens zwei Jahre Psychotherapie für beide!“
    „Oh“, sagt Rafael entschuldigend, „sie wissen es schon. Sie waren neugierig und haben mir Gesellschaft geleistet, als ich die Taschen ausgepackt habe und mein T-Shirt wechseln wollte. Aber mach dir keine Sorgen, sie haben es wie selbstverständlich akzeptiert. Kinder besitzen noch die Fantasie, an das Unmögliche zu glauben.“
    Der Rest des Tages verrinnt träge und ereignislos. Am späten Nachmittag beginnt meine Schwester mit

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