Und dann der Himmel
Rafaels Unterstützung zu kochen. Der Engel schält Kartoffeln, schnippelt Gemüse und klärt dabei Sabine über die Zustände im Himmel auf. Die beiden verstehen sich augenscheinlich recht gut. Meine Schwester lauscht ihm atemlos und schüttet sich hin und wieder aus vor Lachen. Ich glaube, sie hat beschlossen, Rafael nicht allzu ernst zu nehmen, und betrachtet seine Anwesenheit und das, was er von sich gibt, als eine Art Kabarettprogramm. Ich registriere erstaunt, wie selbstverständlich Rafael Sabine zur Hand geht. Bei mir zu Hause hat er keinen Finger gerührt.
Die Kinder sind damit beschäftigt, mit Colette die Räume weihnachtlich zu dekorieren. Zusammen sprühen sie die Fenster mit Kunstschnee ein, hängen kitschige Mobiles in die Rahmen und stellen kleine Engelsfigürchen auf die Bücherregale. Hin und wieder wird Rafael von Simon tuschelnd und kichernd als „Fachmann“ hinzugezogen, denn Colette hat nach wie vor keine Ahnung von Rafaels wahrer Natur. Danach bastelt das Aupair-Mädchen Sterne aus schwarzer Tonpappe und schneidet geometrische Figuren hinein, hinter die dann buntes Glanzpapier geklebt wird. Die Sterne werden mit Tesa ebenfalls am Fenster befestigt und werden beim nächsten Sonnenschein in allen Regenbogenfarben leuchten. Während Annika und Simon mehr oder weniger aufmerksam zusehen und sich bei ihren eigenen kreativen Versuchen die Finger mit Klebstoff einsauen, fühle ich mich in meine Kindheit versetzt.
Es könnte ein richtig friedlicher Nachmittag sein, doch natürlich gibt es da ein kleines Problem. Sabine und Colette würdigen sich keines Blickes. Trotzdem belauern sie sich wie zwei eifersüchtige Primadonnen, wobei es ihnen gelingt, sich niemals zur selben Zeit im selben Raum aufzuhalten. Von meinem Platz im Sessel neben dem Kamin, wo ich die Stunden dösend mit einer Zeitung auf dem Schoß verbringe, sieht es aus wie ein absurdes Ballett, das die beiden aufführen. Alle können die Spannung zwischen den beiden Frauen spüren, bei jedem Knacken des brennenden Kaminholzes zucke ich zusammen, weil ich fürchte, der Funkenschlag könnte die knisternde Atmosphäre entzünden. Die Kinder werden nach einer Weile quengelig und ziemlich unerträglich; von Klaus ist nach wie vor nichts zu sehen.
Nach dem Essen setzen sich Simon und Colette vor die Glotze und sehen sich eine Seifenoper an, während Rafael und ich den Abwasch machen. Erstaunlicherweise gibt es in diesem Haushalt keine Spülmaschine. Sabine bringt ihre Tochter ins Bett.
Auch ich bin hundemüde, obwohl es erst kurz nach zwanzig Uhr ist. Während ich den letzten Teller wegräume, beschließe ich, mich ebenfalls hinzulegen. So früh bin ich zwar seit der vierten Klasse nicht mehr schlafen gegangen, aber ich kann meine Augen kaum noch aufhalten. Wahrscheinlich liegt das an der vielen frischen Luft hier auf dem Lande und an der Tatsache, dass ich heute zweimal fast ums Leben gekommen wäre. Von wegen Urlaub zum Ausspannen! Ich schleppe mich gähnend ins Gästezimmer und lasse mich völlig erschlagen aufs Bett fallen. Rafael kommt mit nach oben und deckt mich zu wie ein kleines Kind. Schon im Halbschlaf höre ich noch die Haustür zuklappen. Sabines Mann ist zurück.
„Willst du noch nicht ins Bett?“ murmele ich schläfrig.
„Nein“, sagt Rafael. „Ich komme später nach. Träum was Schönes.“ Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn und verlässt das Zimmer.
Finn studiert noch einmal das Handbuch über Knoten, das er unter einem Stapel alter Illustrierten gefunden hat, und macht es dann mit einem leisen Knall zu. Das Seil, mit dem er geübt hat, rollt er fein säuberlich zu einer Schnecke zusammen und legt es beiseite. Er war schon immer der ordentliche Typ, ganz im Gegensatz zu einem bestimmten Mann, über den er bald nicht mehr nachdenken muss. Danach nimmt er einen Schluck aus der halb leeren Coladose, die vor ihm auf dem Küchentisch steht, und zündet sich eine letzte Zigarette an. Finn hat genug, es ist Zeit. Er hat vergessen, die Tage zu zählen, die er mit Warten verbracht hat. Nur langsam ist die Wahrheit in seine Gedanken gesickert: Nichts, was er sagen oder tun kann, wird Marco zurückbringen. Er hat ihn verloren.
Hoffnungslosigkeit macht sich in Finn breit. Er verbirgt das Gesicht in seinen Händen und wartet auf die Tränen, die jetzt unweigerlich in ihm aufsteigen werden. Aber seine Wangen bleiben trocken und nur ein Mal entfährt ihm ein hohles Schluchzen. Er kann nicht mehr weinen.
Mit einem Seufzer, der
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